Schüler*innen einer Deutschförderklasse im Oktober 2018, kurz nach ihrer Einführung. Bild: HANS KLAUS TECHT / APA / picturedesk.com
Jolanda Allram
Reporterin
Die mediale Panik um Deutsch in der Schule: Wie ein Sprachtest fehlinterpretiert wird
„Mehr als jeder zweite Wiener Schüler spricht nicht Deutsch“ – Schlagzeilen wie diese dominieren den Diskurs um Mehrsprachigkeit von Schulkindern. Doch Expert*innen kritisieren den Test, der Deutschkenntnisse von Erstklässler*innen bewerten soll.
Viele Kinder im letzten Kindergartenjahr haben ihn gerade im Rahmen der Schuleinschreibung absolviert: Der MIKA-D-Test soll feststellen, ob die Deutschkenntnisse der zukünftigen Erstklässler*innen ausreichen, um dem Unterricht folgen zu können.
Der MIKA-D-Test ist Teil des aktuellen Deutschfördermodells, das Türkis-Blau im Schuljahr 2018/2019 eingeführt hat. Seither werden Kinder mit „ungenügenden“ Deutsch-Kenntnissen in separaten Deutschförderklassen unterrichtet. Getestet wird vor Schuleintritt und am Ende jedes Semesters. Wer am Ende eines Schuljahres den MIKA-D-Test besteht, darf sich „ordentliche*r Schüler*in“ nennen und in die nächste Schulstufe aufsteigen. Doch nach zwei Jahren ist Schluss: Eine weitere Deutschförderung ist gesetzlich nicht vorgesehen.
Verena Blaschitz ist Sprachwissenschafterin an der Universität Wien mit Schwerpunkt Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Sie kritisiert den Umgang der Medien und Politik mit den Testergebnissen. „Kinder, die an MIKA-D scheitern als „ohne Deutsch“ zu titulieren oder sie als Problem zu bezeichnen, ist bedenklich und leider auch Ausdruck der momentanen Politik“, sagt die Linguistin. Der Test sei nicht in der Lage zu messen, wie gut die Kinder dem Unterricht folgen können. Er überprüfe mehr das aktive Sprechen als das passive Zuhören. Unabhängig davon sei der Sprachtest zu wenig wissenschaftlich gestützt. Welche Sprachkenntnisse Kinder haben müssen, um dem Unterricht folgen zu können, sei aktuell nicht eindeutig. „Hier gibt es bei weitem zu wenig Forschungsergebnisse“, sagt Blaschitz.
„Mehrsprachigkeit wird negativ dargestellt, wenn es bestimmte Sprachen betrifft.“ Verena Blaschitz, Linguistin
Aktuell wird der MIKA-D-Test vom Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen (IQS) weiterentwickelt, nachdem er in einer Evaluierungsstudie zum Deutschfördermodell der Universität Wien im Jahr 2022 deutlich kritisiert wurde. Laut IQS arbeitet das Institut dafür mit „Sprachwissenschaftler*innen, Fachleuten mit methodischer Expertise und Lehrpersonen“ zusammen. Im aktuellen Regierungsprogramm ist eine neuerliche Evaluierung des MIKA-D Tests geplant.
Schlagzeilen aus österreichischen Medien zum Thema. Collage: tag eins
Der Umgang mit dem Testverfahren in Politik und Medien sei auf ein großes gesellschaftliches Problem zurückzuführen, sagt Blaschitz: „Mehrsprachigkeit wird negativ dargestellt, wenn es bestimmte Sprachen betrifft.“ Prestigereiche Sprachen, wie Englisch würden gefördert, andere Sprachen wie Arabisch oder Bosnisch, Kroatisch und Serbisch abgewertet. Dabei würden Kinder in jedem Fall von einer Förderung ihrer Erstsprache profitieren. Das Pflegen der Familiensprache sei wichtig, nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern in erster Linie für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung der Kinder.
Eltern und Kinder in der Bringschuld
Die mediale Berichterstattung über die Deutschkenntnisse von Schüler*innen betont häufig die Defizite, anstatt Mehrsprachigkeit als Ressource zu erkennen. Das könnte auch an einer sehr homogenen Medienbranche liegen. In einer Studie aus dem Jahr 2021 geben nur 6 Prozent der Journalist*innen an, einen nicht-deutschsprachigen Migrationshintergrund zu haben. Der Fingerzeig auf Eltern oder die Empörung, dass viele Kinder zuhause nicht deutsch sprechen, bleibt dabei häufig nicht aus. Die Sprachwissenschafterin sagt dazu: „Aus einer linguistischen Perspektive ist es völlig sinnlos, Eltern, die nicht gut Deutsch können, zu sagen, sie sollen mit dem Kind Deutsch sprechen.“
„Es ist die Aufgabe der Schule, allen Kindern Deutsch so beizubringen, dass sie an Bildung teilnehmen und Bildungserfolg erleben können.“ Verena Blaschitz, Linguistin
Von den Medien wünscht sich Blaschitz einen differenzierten Blick auf das Thema: „Ich glaube, dass eine gewisse Sachlichkeit und Differenziertheit den Leserinnen und Lesern durchaus zuzumuten wäre“, sagt die Linguistin. Außerdem solle der Diskurs in eine positivere Richtung gehen: „Dass man nicht ständig darauf beharrt, dass die Eltern irgendetwas falsch gemacht haben, dass die Kinder etwas falsch machen, dass das Problem bei den Familien liegt.“
Für die Linguistin sei Deutsch nicht die alleinige Bringschuld der Eltern und Kinder. Statt Druck auf Familien auszuüben, etwa durch die Kopplung von Deutsch-Kentnissen an Sozialleistungen, brauche es Reformen: „Es ist die Aufgabe der Schule, allen Kindern Deutsch so beizubringen, dass sie an Bildung teilnehmen und Bildungserfolg erleben können.“
Deutschförderklassen bleiben
Die neue Regierung hat jedenfalls schon vage Pläne dazu. Laut Regierungsprogramm soll die Sprachförderung neugestaltet werden, die Evaluierung aus dem Jahr 2022 soll dabei berücksichtigt werden. Auf die darin vielfach kritisierten separierten Deutschförderklassen will man allerdings nicht verzichten. Obwohl sich der neue Bildungsminister Christoph Wiederkehr in der Vergangenheit gegen diese ausgesprochen hat und in seinem kürzlich erschienenen Buch „Schule schaffen“ einen „politischen Irrweg“ nannte, ist lediglich von einer Weiterentwicklung die Rede. Auch Blaschitz sagt: „Förderklassen braucht es nicht, weil wir aus der Forschung seit langem wissen, dass Kinder im besten Fall im Klassenverband bleiben und dort zusätzlich gefördert werden.“
Bettina Blanc führte mehrere Jahre lang Deutschförderkurse (Für jene Kinder, die bei MIKA-D etwas besser abschneiden, aber immer noch „mangelnde“ Deutschkenntnisse haben) in einer Volksschule im 22. Bezirk in Wien. Aktuell befindet sie sich im Sabbatical. Sie hat erlebt, dass die Kinder hin- und hergerissen sind: „Ich glaube, es macht ihnen großen Spaß bei mir zu sein. Aber jedes Mal, wenn ich sie aus ihrer Klasse hole, gibt es auch ein Augenrollen. Sie sind furchtbar gerne in ihren Klassen.“
Was Kinder laut Blanc brauchen, um Deutsch zu lernen: sprachsensible Lehrkräfte in jedem Fach, ein Sprachbad (mehrere Stunden am Tag von der zu erlernenden Sprache umgeben zu sein und somit in sie „eintauchen“ zu können) und vor allem Zeit: Es kann bis zu sechs Jahre dauern, bis man auf dem Niveau einer Bildungssprache ist, die in Fächern wie Mathematik gefordert wird.“ Dass nach vier Semestern keine weitere Förderung mehr vorgesehen ist, bemängeln auch die Autorinnen der Evaluierungsstudie.
„Hauptsache der Selbstwert wird nicht in dem Maß geschädigt, dass man die Lust zum Lernen verliert“ Bettina Blanc, Leiterin einer Deutschförderklasse in Wien
Wenn Blanc etwas am aktuellen Deutschfördermodell ändern könnte, dann wäre es der MIKA-D Test. „Mich stresst am meisten der Test am Ende, der dann darüber bestimmt, ob das Kind in die nächste Klasse aufsteigt oder nicht.“ Aus ihrer Sicht seien ihre Kolleg*innen durchaus in der Lage, diese Entscheidung ohne Test zu treffen. „Da vertraue ich auch auf die Kompetenzen unserer Lehrkräfte.“ Weil die Prüfungssituation für die Kinder oft unangenehm sei, achte sie auf eine liebevolle Herangehensweise. „Hauptsache der Selbstwert wird nicht in dem Maß geschädigt, dass man die Lust zum Lernen verliert“, sagt Blanc.
Eine positive Haltung gegenüber Sprache im Allgemeinen und Wertschätzung für alle Sprachen ist für Sprachwissenschaftlerin Blaschitz der Schlüssel zum Erfolg. Sie sagt: „Es geht an die Substanz, wenn man Kindern vermittelt, ‚deine Sprache ist nichts wert, die wollen wir in unserer Gesellschaft nicht, du sollst nur noch Deutsch sprechen’.“ Kinder sollten frei von Geboten oder Vorgaben Sprache verwenden dürfen und jede Sprache als wertvoll erleben: „Wir sind uns alle darüber einig, dass Kinder, die in Österreich aufwachsen, auch Deutsch lernen müssen. Das stellt niemand infrage. Aber das ist für mich kein Widerspruch dazu, dass sie auch andere Sprachen verwenden dürfen. Im Kindergarten und in der Schule.“
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