Der Immobilienmarkt ist kaputt
Immobilienentwickler*innen bauen ihre Wohnungen und Häuser am Markt vorbei. Zeit zu fragen, wie wir in Zukunft leben wollen.
Jeden Morgen von Oberösterreich nach Wien und abends wieder zurück: Fünf Stunden pendelte Eva Falkner Tag für Tag mit dem Zug. „Ich bin im Studentenwohnheim ausgezogen, und die Wohnungssuche ging ziemlich schleppend voran“, sagt die 28-jährige. Das Semester hatte schon angefangen, aber ein Appartement oder ein WG-Zimmer war nicht in Sicht.
Zufällig hörte Eva Falkner von „Wohnbuddy“. Die Online-Plattform wird vom Verein „WGE! – Gemeinsam wohnen“ getragen und vermittelt Wohnpartner*innen in Wien und Umgebung. Die Idee: Jüngere Menschen mit wenig Geld ziehen bei älteren ein, die viel Platz haben und sich Gesellschaft oder Hilfe im Alltag wünschen. Eva Falkner klickte sich durch den Online-Fragebogen und hatte Glück. Schon ein paar Tage später telefonierte sie zum ersten Mal mit Ute Karin Höllrigl. Die 84-jährige hatte sich ebenfalls bei Wohnbuddy registriert. Sie lebt allein und wollte wieder mehr Leben in ihrer geräumigen Wohnung. „Als ich erzählt habe, dass ich pendeln muss, hat sie mich spontan zum Probeübernachten eingeladen“, sagt Eva. ___STEADY_PAYWALL___ Noch am selben Abend läutete sie an der Wohnungstür im dritten Wiener Bezirk und lernte ihre zukünftige Mitbewohnerin kennen.
In Wien wie auch in Österreich allgemein steigt die Zahl der Single-Haushalte. Vor allem in größeren Städten fehlt bezahlbarer Wohnraum für Studierende oder Auszubildende mit wenig Geld. Aber auch ältere Menschen wohnen immer öfter allein. Und viele von ihnen haben mehr Platz als sie brauchen. Laut Statistik Austria bewohnen alleinlebende über 60-Jährige durchschnittlich 85 Quadratmeter. Bei den jüngeren Singles sind es 58, Familien mit Kindern kommen gerade mal auf 34 Quadratmeter pro Person.
Den vorhandenen Wohnraum besser zu nutzen und Nähe zwischen den Generationen zu ermöglichen, darum geht es bei „Wohnen für Hilfe“. Ein jüngerer Mensch zieht bei einem älteren ein und zahlt keine oder eine reduzierte Miete. „Dafür unterstützen die Jüngeren im Haushalt, im Garten oder beim Einkaufen“, erklärt Daniel Fuhrhop. Es gehe aber ausdrücklich um Hilfe im Alltag, nicht um Pflege. Der Ökonom hat zu dem Thema geforscht, mehrere Bücher geschrieben und berät Kommunen rund um soziale Wohnformen.
„Junge Menschen brauchen kostengünstigen Wohnraum. Ältere freuen sich über Gesellschaft und etwas Unterstützung im Alltag.“ Marlene Welzl, Online-Plattform Wohnbuddy
Vermittlungsstellen für „Wohnen für Hilfe“ oder „Homeshare“, wie es im englischsprachigen Raum heißt, gibt es weltweit an vielen Orten. Fuhrhop spricht von insgesamt 18 Ländern – von Australien über die USA bis nach Europa. Damit das Zusammenwohnen auch klappt, sind eine gute Beratung und klare Rahmenbedingungen wichtig, zum Beispiel zum Umfang der Hilfe und der Miete. Vermittlungsstellen sorgen auch dafür, dass Ältere und Jüngere sich vorher kennenlernen. Nicht jede WG kommt letztlich zustande, wie eine Evaluation von „Wohnen für Hilfe“ in Köln zeigt. Aber wer zusammenzieht, ist mit dem Arrangement meistens sehr zufrieden.
Auch Marlene Welzl von Wohnbuddy ist überzeugt, dass beide Seiten von dem Modell profitieren, denn: „Junge Menschen brauchen kostengünstigen Wohnraum. Ältere freuen sich über Gesellschaft und etwas Unterstützung im Alltag.“ Über die Online-Plattform und persönliche Gespräche vermittelt sie jährlich rund 50 Wohnpaare in Wien und Umgebung. Bei dem Konzept von Wohnbuddy zahlen die Mitwohnenden üblicherweise eine Miete, die 400 Euro aber nicht überschreiten sollte.
Der Umfang der gewünschten Hilfe variiert. Manchmal gehe es eher um den gegenseitigen Austausch, so Welzl. Bei anderen Paaren ist die Miete vergleichsweise niedrig, dafür hilft der oder die Mitwohnende mehrere Stunden pro Woche im Haushalt. Wohnbuddy erhebt eine einmalige Vermittlungsgebühr, unterstützt bei der schriftlichen Wohnraumvereinbarung und ist auch später ansprechbar, falls Probleme auftauchen. Manchmal gebe es zum Beispiel unterschiedliche Auffassungen, wie oft die Küche genutzt oder wie sie nach dem Kochen hinterlassen werden soll. Allerdings sind solche Schwierigkeiten laut Welzl eher die Ausnahme.
In Österreich ist Wohnbuddy der größte Anbieter von „Wohnen für Hilfe“. Neben privaten Wohngemeinschaften vermittelt die Organisation auch Zimmer in Senioren- und Pflegewohnhäusern an junge Menschen. Etwas kleiner zieht der Diakonische Verein Tirol das Modell auf. Stefan Gartlacher, Geschäftsführer eines Innsbrucker Studierendenwohnheims, betreut das Angebot noch neben seinen anderen Aufgaben. Wegen des angespannten Wohnungsmarktes in der Uni-Stadt hält er das Modell für überaus sinnvoll und hofft, es noch weiter ausbauen zu können.
„Vielen älteren Menschen geht es vor allem darum, dass jemand da ist.“ Stefan Gartlacher, Diakonischer Verein Tirol
Das Innsbrucker Angebot gibt es bereits seit 2011. Gartlacher hat es nach einer mehrjährigen Corona-Pause wiederbelebt, die Vermittlungszahlen liegen bisher im einstelligen Bereich. Die Wohnpartner*innen zahlen keine Vermittlungsgebühr, auch eine Miete ist nicht vorgesehen. Dafür leisten die jungen Mitbewohner*innen pro Quadratmeter bis zu einer Stunde Hilfe im Monat. Gartlacher versteht das als Obergrenze, die in der Praxis selten erreicht wird. „Vielen älteren Menschen geht es vor allem darum, dass jemand da ist“, sagt er.
Wer einmal gute Erfahrungen gemacht hat, nimmt oft wieder jemanden auf. So war es bei einer älteren Dame, deren junger Mitbewohner als Geflüchteter nach Innsbruck kam und dort ein Studium begann. „Sie hat es als sehr bereichernd erlebt, gemeinsam zu kochen und etwas von der Kultur ihres Mitbewohners mitzubekommen“, so Gartlacher. Als der junge Mann den Studienort wechselte, war die Innsbruckerin sofort bereit, wieder jemanden aufzunehmen. Manche Wohnungsgeber haben aber auch konkrete Wünsche: Sie suchen jemanden, der sich um den Garten kümmert oder regelmäßig für sie einkauft. Kürzlich hat Gartlacher eine Studentin an eine ältere Dame vermittelt, die nicht mehr gut zu Fuß ist. Sie suchte jemanden, der regelmäßig mit dem Hund Gassi geht. „Die Studierende hat eine Etage in der Villa und ist superhappy mit dem Arrangement“, so Gartlacher.
Auch Eva Falkner aus Wien ist zufrieden mit ihrer WG. Sie erledigt die Einkäufe für ihre Mitbewohnerin Ute Karin Höllrigl oder sitzt mit ihr in der Küche zusammen. Dass die 28-jährige Gesangspädagogik studiert und daheim übt, ist für Höllrigl kein Problem. Sie freut sich über Musik im Haus. Eva Falkners Klavier steht inzwischen im gemeinsamen Wohnzimmer.
„Mit dem Konzept lässt sich vorhandener, ungenutzter Wohnraum mobilisieren.“ Daniel Fuhrhop, Ökonom
„Wohnen für Hilfe“ bringt Jüngere und Ältere einander näher. Aber das sei längst nicht der einzige Vorteil, sagt Daniel Fuhrhop. „Mit dem Konzept lässt sich vorhandener, ungenutzter Wohnraum mobilisieren.“ Das sei ökologisch nachhaltig und wirtschaftlich sinnvoll. Denn jedes Zimmer und jede Einliegerwohnung, die durch „Wohnen für Hilfe“ wieder auf den Wohnungsmarkt kommen, müssen nicht neu gebaut werden. Weniger Neubau bedeutet weniger ökologische Probleme, wie versiegelte Flächen und überhitzte Städte. Hinzu kommt die enorme Klimabelastung, die durch das Bauen selbst entsteht und die so verringert werden kann.
Der gesamte Wohnungsmarkt lässt sich mit „Wohnen für Hilfe“ gewiss nicht umkrempeln. Ein Blick ins europäische Ausland zeigt aber, wieviel Potenzial in dem Modell steckt. In Großbritannien, Frankreich oder Belgien ist diese Art des Zusammenwohnens bereits deutlich verbreiteter als in Österreich oder Deutschland. Die belgische Organisation 1Toit2Ages beispielsweise vermittelte 2022 insgesamt 556 Wohnpatenschaften in neun Städten. Das sind allein im wallonischen Teil Belgiens mehr, als die rund 30 deutschen Vermittlungsstellen zusammen erreichen, so Fuhrhop.
Möglich wird das durch zweierlei: Öffentliche Zuschüsse und Sponsoren sowie eine vergleichsweise hohe Vermittlungsgebühr sichern beispielsweise in Belgien eine kontinuierliche Arbeit über viele Jahre. So erhebt 1Toit2Ages von beiden Wohnpartnern eine jährliche Pauschale, die zwischen jeweils 200 und 450 Euro liegt. In Großbritannien sind laut Fuhrhop monatliche Gebühren von etwa 145 britischen Pfund üblich, allerdings wird keine Miete gezahlt. Wegen des löcherigen Sozialsystems seien ältere Menschen hier eher daran gewöhnt, für Hilfe im Haushalt oder beim Einkaufen zu zahlen, so der Ökonom. Dank der Gebühren arbeiten inzwischen sogar 17 britische Vermittlungsstellen kostendeckend.
Ein Mix aus öffentlicher Finanzierung und höheren Vermittlungsgebühren könnte auch in Österreich und Deutschland funktionieren, davon ist Fuhrhop überzeugt. Er argumentiert, dass sich so ein Angebot für Kommunen sogar rechne. „Vorhandenen Wohnraum intelligent zu nutzen, spart Geld, weil weniger neu gebaut werden muss.“ Ausgehend von den Vermittlungszahlen in Belgien schätzt er das Potenzial in Deutschland auf 30.000 Wohnpatenschaften pro Jahr.
Die Vermittlungsgebühr von Wohnbuddy in Wien wird individuell vereinbart und ist wesentlich geringer als beispielsweise in Großbritannien oder Belgien. Eine Arbeitsstelle lasse sich aus den Einnahmen nicht finanzieren, so Marlene Welzl. Sie und ihre Mitgründer stemmen Wohnbuddy seit über acht Jahren neben ihren Vollzeitjobs. „Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass es etwas wirklich Sinnstiftendes ist“, sagt die 35-jährige. Die vielen positiven Rückmeldungen von Wohnpartner*innen bestärken sie darin, weiterzumachen. Dass viele Menschen so eine Wohnform wollen, zeigen auch die zahlreichen Anfragen, die Wohnbuddy und der Diakonische Verein Tirol bekommen. Oft halten die Wohnpartnerschaften mehrere Jahre lang.
Eva Falkner und Ute Karin Höllrigl vereinbarten nach der spontanen Übernachtung einen Probemonat. „Unser erstes Treffen ist jetzt über ein Jahr her, und ich wohne immer noch hier“, sagt die Studentin. Seitdem haben sie viele Gespräche über Musik und das Leben geführt oder gemeinsam die Spülmaschine ausgeräumt – Eva Falkner unten und Ute Karin Höllrigl oben, damit sie sich nicht so tief bücken muss.
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