Wie Kliniken klimaschädliche Narkosegase ersetzen können
Narkosemittel legen nicht nur Patient*innen lahm, sondern auch den Planeten. Eine neue Generation von Narkoseärzt*innen sucht weltweit nach nachhaltigeren Methoden. Durch zwei kluge Maßnahmen konnten am LKH Feldkirch über 100 Tonnen an CO2-Emissionen eingespart werden.
Der Wendepunkt kam für die Anästhesistin Susanne Koch, als ihr das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand. Der Keller ihres Hauses in Berlin-Frohnau war im Sommer 2018 nach einem Starkregen vollgelaufen. Nachdem sie ihn wieder trockengelegt hatte, „wollte ich mal genau die Fakten wissen, wie da der Zusammenhang mit dem Klimawandel ist,” sagt die energische Ärztin vom Berliner Krankenhaus Charité. „Als ich mich dann in den Fachbüchern eingelesen hatte, Mann, da merkt man, wie dringend die Klimakrise ist. Uns steht das Wasser tatsächlich bis zum Hals.“
Aus dem privaten Schock wurde auch ein beruflicher: Inhalative Narkosegase zählen zu den schädlichsten Klimagasen überhaupt. „Manche Narkosegase sind für das Klima fast 3000 Mal schädlicher als Kohlendioxid,“ erfuhr Koch, die seit 2008 als Anästhesistin an Europas größtem Universitätskrankenhaus arbeitet. „Wenn ich sieben Stunden im OP mit Desfluran Narkosen gebe, bedeutet das soviel CO2-Ausstoß, wie wenn ich im Auto von Berlin bis nach Westafrika fahre.”
Die 16 Millionen Narkosen, die etwa in Deutschland im Durchschnitt pro Jahr verabreicht werden, entsprechen dem Ausstoß von 600.000 Tonnen CO2-Äquivalenten in die Atmosphäre, denn volatile Narkosegase werden in den meisten Fällen ungefiltert an die Außenluft abgegeben. Bei Studien wurden Narkosegase weit entfernt von OP-Sälen gefunden, etwa im Himalaya und sogar in der Antarktis, denn Narkosegase sind in der Regel langlebig. Desfluran etwa kann 14 Jahre lang nachgewiesen werden, Lachgas gar 114 Jahre.
Patient*innen denken bei medizinischen Eingriffen vor allem an Sicherheit, nicht an den CO2-Fußabdruck. Für Koch ein Trugschluss: „Ein stabiles Klima ist für unsere Gesundheit und unser Überleben essenziell. Als Ärzte sollten wir diese Herausforderungen annehmen und handeln,“ meint Koch, die deshalb die Kommission zur Nachhaltigkeit der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie initiierte.
Gesundheitssektor verantwortlich für sieben Prozent der Treibhausemissionen
Tatsächlich zählt die Gesundheitsbranche zu den CO2-intensivsten Sektoren und ist für knapp fünf Prozent der weltweiten Klimagas-Emissionen verantwortlich. In Österreich trägt das Gesundheitssystem laut Reinhard Germann, dem Vorstand der Abteilung für Anästhesie und Intensivbehandlung am Landeskrankenhaus Feldkirch knapp 7 Prozent oder 6,8 Megatonnen zu den nationalen Treibhausgasemissionen bei, in den USA sind es gar 8,5 Prozent. „Der größte Teil der spitalsbezogenen Emissionen stammt dabei aus dem Operationssaal und Intensivbereich,“ sagt Germann. „Umgekehrt bedeutet dies auch, dass gerade die ressourcenintensiven Bereiche der Operationssäle, der Anästhesie und Intensivstation einen entscheidenden Beitrag zur CO2-Einsparung leisten können.“
An der Charité war Koch entsetzt, dass ihr Beruf, Menschen zu helfen, gleichzeitig Patient*innen wie Planet schadet. Besonders ärgerte sich die Ärztin, dass sie während der Ausbildung nie ein Wort dazu hörte. „Das war einfach kein Thema, aber als ich dann mit Kolleg*innen drüber sprach, war sofort Interesse da.“ Diese Erfahrung spiegelt die jüngste Repräsentativumfrage der Stiftung Gesundheit: Neun von zehn Ärzt*innen sind sich der Dringlichkeit von nachhaltigen Lösungen in medizinischen Einrichtungen bewusst, aber es fehlt an spezifischem Know-how und deshalb an der Umsetzung.
LKH Villach setzt auf Aktivkohlefilter
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„Ich habe den Artikel von Susanne Koch in der Fachzeitschrift Anästhesist gelesen und dadurch wurde mir erst bewusst, wie hoch unser Anteil an den Emissionen ist,“ sagt Ernst Trampitsch, Vorstand der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am LKH Villach. „Wir haben daraufhin ein „Green Team“ gebildet, um nachhaltige Ideen zu besprechen. Wir sind ja für die Gesundheit der Menschen verantwortlich und sollten also nicht klimaschädliche Gase verantworten.“ Als erstes Krankenhaus in Österreich begann Villach deshalb im März 2022 damit, Narkosegase mit Aktivkohlefiltern aufzufangen, damit weniger Gase in die Umwelt gelangen.
Das mit Abstand klimaschädlichste aller Narkosegase ist Desfluran. Sein Treibhauseffekt ist 2600-mal ausgeprägter als der von Kohlendioxid. Lachgas (Distickstoffmonoxid) ist wegen seiner extrem langen atmosphärischen Lebensdauer das zweitschädlichste Narkosegas. Zusätzlich schädigt es auch noch die Ozonschicht.
In Berlin und Feldkirch kamen die Anästhesist*innen Koch und Germann zum gleichen Schluss: „Wir haben Desfluran einfach weggelassen,“ sagt Koch kurzerhand. „Wir nutzen statt inhalativer Narkosegase regionale Narkose oder intravenöse wie Propofol. Das war nicht von top down, sondern wir haben das einfach so gemacht.“ Jungen Anästhesist*innen werde die Narkose mit Desfluran als Standard beigebracht, weil Desfluran weniger verstoffwechselt wird und damit das Aufwachen des Patient*innen aus der Narkose sehr leicht zu steuern sei, sagt Koch, „aber mit etwas Erfahrung kann man das mit Propofol genauso gut steuern; noch dazu neigen Menschen weniger zur Übelkeit nach einer Propofol-Narkose.“
In Villach wurde Desfluran nie eingesetzt, „Ich bin der Überzeugung, dass Desfluran medizinisch nicht notwendig ist,“ sagt Trampitsch. Auch im LKH Feldkirch und an der Medizinischen Universität Innsbruck wird auf Desfluran inzwischen gänzlich verzichtet und neue Aktivkohlefilter sollen andere abgeatmete Narkosegase wie etwa Sevofluran, ein weiteres schädliches Inhalationsgas, binden. „Der durch volatile Anästhetika verursachte CO2-Abdruck konnte dadurch in Feldkirch auf der Abteilung um 94 % reduziert werden - von circa 172 Tonnen CO2 Äquivalenten im Jahr 2020 auf ca. 11 Tonnen CO2-Äquivalente im Jahr 2022,“ berichtet Germann. „Diese Einsparung entspricht dem CO2-Ausstoß von 800.000 gefahrenen Autokilometern. Dank der innovativen Filtersysteme konnte zusätzlich auf den Betrieb der druckluftbetriebenen Narkosegasabsaugung verzichtet werden, wodurch seither monatlich 20.000 kWh Energie eingespart werden können.“
Die Charité Berlin meldet ähnliche Zahlen: Der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen habe sich in der Anästhesiologie-Abteilung der Charité seit 2016 auf ein Zehntel reduziert, “einfach nur dadurch, dass wir Propofol nehmen,” sagt Koch.
Factbox: Klimaschädlichkeit von Narkosegasen
Narkosegase haben einen enormen Einfluss auf die Erdatmosphäre. Aufgrund aktuell noch sehr selten verwendeter Recyclingsysteme für sogenannte volatile Anästhetika werden diese in den meisten Fällen ungefiltert und unmetabolisiert in die Umwelt abgegeben. 2014 betrugen die durch volatile Anästhetika verursachten globalen Emissionen knapp vier Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. 80 Prozent dieser Emissionen entstanden dabei durch die Verwendung von Desfluran. Desfluran sowie Sevofluran gehören zu den Fluorkohlenwasserstoffen (FKW). Isofluran, Enfluran und Halothan sind Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) und haben, wie auch Lachgas, zusätzlich eine ozonschädigende Wirkung.
Um die Klimaschädlichkeit verschiedener Stoffe zu vergleichen, wird das sogenannte Global Warming Potential (GWP100) berechnet - das heißt, der Beitrag eines Stoffes zum Treibhauseffekt gemittelt über den Zeitraum von 100 Jahren. Das GWP100 dieser volatilen Anästhetika verglichen mit CO2 zeigt, dass deren klimaschädigendes Potenzial wesentlich höher ist. Vor allem die Differenz von Desfluran zum Rest ist signifikant. Das GWP100 von Desfluran beträgt 2540. Das bedeutet, dass ein Gramm Desfluran das gleiche globale Erwärmungspotenzial aufweist wie 2540 Gramm CO2. Sevofluran hat im Vergleich dazu ein globales Erwärmungspotenzial von 130 GWP.
Sevofluran wird in den genannten Krankenhäusern weitgehend reduziert oder mit Filtern aufgefangen. Lachgas verwenden all die genannten Ärzte bei Operationen schon lange nicht mehr. Nur bei Hebammen sei es wegen der schmerzlindernden Wirkung bei Geburten beliebt, sagt Koch.
Klima schützen und Geld sparen
Auf Initiative von Anästhesiologie-Professorin Jodi Sherman, die zugleich Direktorin des Nachhaltigkeitsprogramms an der Yale Universität ist und als internationale Koryphäe der klimafreundlichen Medizin gilt, beendeten die amerikanischen Yale New Haven Kliniken den Einsatz von Desfluran, schon 2013, als weltweit erste Gesundheitsorganisation, die ein Medikament aus rein ökologischen Gründen wegließ. Sherman hat berechnet, dass Yale dadurch mehr als 1,2 Millionen Dollar Kosten und 1600 Tonnen CO2-Äquivalente einsparte.
Im Herbst letzten Jahres hat sich eine österreichweite Arbeitsgruppe zur Nachhaltigkeit in der Anästhesie gegründet, in der sowohl Trampitsch als auch Germann aktiv sind.Nur in Ausnahmefällen, etwa bei extrem übergewichtigen Patienten, wolle sie noch Desfluran einsetzen, erzählt die Leiterin der Arbeitsgruppe, Janett Kreutziger von der Medizinischen Universität Innsbruck. Sie ist an einer Studie beteiligt, die untersucht, ob Desfluran „eventuell bei der postoperativen Verwirrtheit bei älteren Menschen einen Vorteil hat“, aber ansonsten ließe es sich durch weniger klimaschädliche Methoden ersetzen. Inzwischen hält sie auch Vorträge bei der Anästhesistenausbildung, damit der Nachwuchs von Anfang an besser Bescheid weiß über die umweltschädlichen Nebenwirkungen der Gase. Wie bei Koch war auch für Kreutziger ein persönliches Erlebnis auschlaggebend: Die Geburt ihres Kindes. „Das war sicher ein Knackpunkt, an dem ich anfing, mich über das Thema Nachhaltigkeit in der Nahrung, Kleidung, Kosmetika und so weiter zu informieren, und das Interesse wuchs dann auch in meinem Fachgebiet.“
Schottland verbietet als erstes Land den Einsatz des klimaschädlichen Desfluran
Weil halogenierte Kohlenwasserstoffe (zu denen auch die Narkose-Gase zählen) eine immens erderwärmendes Potenzial haben, wurde bereits 2005 im Rahmen des Kyoto-Protokolls eine weltweite Reduktion vereinbart. 2016 einigte man sich dann auf einen weltweiten Verzicht bis 2035. Tatsächlich aber steigt die Verwendung der klimaschädlichen Narkosegase weltweit beharrlich, unter anderem wegen der verbesserten medizinischen Versorgung in aufstrebenden Ländern. Gleichzeitig leben Menschen in industrialisierten Ländern länger und brauchen deshalb mehr Operationen.
Schottland verbietet in Zukunft als erstes Land weltweit den Einsatz von Desfluran – bis auf wenige Ausnahmen. Auch die EU empfiehlt ihren Mitgliedstaaten die Reduzierung von inhalativer Narkose. Ein Verbot von Desfluran scheiterte aber am Widerspruch der Anästhesiologenverbände. Auch Geschäftsinteressen stecken dahinter: “Desfluran ist am teuersten, und da denken manche, wenn es so teuer ist, muss es auch gut sein,” sagt Koch.
Braucht der Gesundheitssektor verbindliche Klimaziele?
Pionier*innen wie Sherman fordern, die Gesundheitsbranche müsse zur Messung und Reduktion ihrer CO2-Abdrücke verpflichtet werden, weil das Ausmaß der Klimakrise mehr als die freiwillige Initiative einiger Kliniken erfordert. In Großbritannien beispielsweise richtete der National Health Service (NHS) schon 2008 eine Abteilung für nachhaltige Entwicklung ein, die unter anderem die CO2-Emissionen im Gesundheitssektor misst. Der britische Gesundheitsdienst hat sich als erster weltweit dazu verpflichtet, bis 2040 das Net-Zero-Ziel zu erreichen, also klimaneutral zu werden und verringerte die Emissionen von Treibhausgasen im Vergleich zu 1990 bereits um 26 Prozent. „Die Beweislage, dass die Klimakrise auch eine Gesundheitskrise ist, ist überwältigend,“ sagt Nick Watts, der Nachhaltigkeitschef des NHS. „Gesundheitsexperten müssen jetzt schon die Symptome behandeln.“
Für Sherman ist die transparente Kommunikation der Emissionen im Gesundheitswesen der notwendige erste Schritt, um Lösungen zu finden. „In England werden diese Ergebnisse regelmäßig aktualisiert und verbessert, und sind inzwischen die am längsten währende Anstrengung, die vom Gesundheitswesen verursachten Klimagas-Emissionen zu quantifizieren,“ lobt Jodi Sherman.„Gesundheitsversorger sind dazu verpflichtet, die Gesundheit zu schützen. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen, und das heißt, ehrgeizige, wissenschaftlich fundierte Emissionsziele zu setzen, damit wir vor 2050 klimaneutral werden.“
Klimaschutz als neue Herausforderung der Patientensicherheit
Shermann entwickelte eine Klimaschutz-App für Anästhesist*innen, die Yale Gassing Greener App. Damit sehen Narkoseärzt*innen auf einen Blick, wieviel Klimaverschmutzung sie durch die Wahl weniger schädlicher Narkosemittel vermeiden. Genau wie Koch ist auch Sherman davon überzeugt, dass es zur Aufgabe von Ärzt*innen zählt, Klimaschädigung so gut es geht zu vermeiden. “Das ist die neue Herausforderung, wenn es um Patientensicherheit geht, dass wir auch über den Patienten, der vor uns steht, hinaus blicken,” sagt Sherman.
„Nicht nur die Anästhesiologie, sondern die ganze medizinische Versorgung hat ein Klimaproblem,“ sagt Jodi Sherman, „Emissionen des Gesundheitswesens führen zu soviel Toden wie vermeidbare medizinische Fehler, und wir sollten sie genauso ernst nehmen.“
Susanne Koch sieht das genauso und kämpft längst auch außerhalb der Klinik für Lösungen. Sie hat sich deshalb der Scientist Rebellion angeschlossen, also den Wissenschaftler*innen, die eine Revolution der Klimapolitik fordern. Mit Kolleg*innen protestierte sie etwa vor dem Wirtschaftsministerium in Berlin gegen die langsame Umsetzung von klimaschützenden Strategien und hielt wöchentlich eine Mahnwache neben der Kirche ihres Wohnorts. „Da haben mich viele Leute in Gespräche verwickelt, warum ich hier stehe,“ sagt sie. So konnte sie erklären: Für sie als Ärztin gibt es kein dringenderes Gesundheitsproblem.
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