Der Gipfel der Unzufriedenheit
Das Versprechen, es werde alles immer besser, löst sich für die Generation der Millennials nicht mehr ein. Bild: aanbetta / Adobe Stock.
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Luise Mbaduko
Reporterin

Der Gipfel der Unzufriedenheit

Die ersten Millennials überschreiten die 40 und kommen ins klassische Alter für die Midlife Crisis. Aber ist das Phänomen Midlife Crisis für diese Generation überhaupt noch relevant?

Weil er vom Alltag frustriert ist und es sich selbst noch einmal so richtig beweisen möchte, legt sich der unzufriedene Mittfünfziger einen flotten Sportwagen, ein keckes Tattoo oder eine 25-jährige Freundin zu (womöglich auch alles zugleich): Ist die Rede von der Midlife Crisis, so haben viele vermutlich dieses Bild vor Augen. In den vergangenen Jahrzehnten stieß das Phänomen immer wieder auf Interesse – sowohl in wissenschaftlichen Studien als auch im popkulturellen Kontext.

Vom schlecht gealterten Filmdrama „American Beauty“ von 1999 – Protagonist Lester Burnham (Kevin Spacey) versucht, von spießbürgerlicher Monotonie mit „zickiger Ehefrau“, pubertierender Tochter und ödem Job gelangweilt, eine Minderjährige zu verführen – bis hin zum erst kürzlich vielfach prämierten Film „Everything Everywhere All at Once“ von 2022. In der Science-Fiction-Komödie gerät das Leben einer chinesisch-amerikanischen Frau mittleren Alters (Michelle Yeoh) aus den Fugen, als sie erfährt, dass Paralleluniversen real sind und sie ihre Realität retten muss – wobei sie sich mit den verschiedenen möglichen Verläufen ihres Lebens konfrontiert sieht.

Frust, Ärger, Selbstfindung, Liebe – mit ihrer Vielfalt an Themen und Emotionen bietet die Midlife Crisis eine dankbare Vorlage für Bücher, Filme oder Serien. Aber gibt es die Midlife Crisis eigentlich noch? Erleben die Millennials – also die Jahrgänge 1981 bis 1996, auch „Generation Y“ genannt – noch eine klassische Midlife Crisis?

Am Anfang war der Feminismus

Um das herauszufinden, müssen wir zuerst klären, was eine Midlife Crisis überhaupt ist. ___STEADY_PAYWALL___ Der Begriff bezeichnet laut Duden eine „krisenhafte Phase in der Mitte des Lebens, in der jemand sein bisheriges Leben kritisch überdenkt und gefühlsmäßig in Zweifel zieht“. Auf welche Altersgruppe sich der Begriff bezieht, schwankt. Meist ist von Personen zwischen Mitte 30 und Mitte 50 die Rede.

Und auch wenn man dabei heute meist an Männer in ihren Fünfzigern denkt, kam der Begriff erstmals in feministischen Kreisen der 1970er-Jahre auf, sagt Susanne Schmidt, die als Wissenschaftshistorikerin zu Geschlechtergeschichte forscht und sich mit den feministischen Ursprüngen der Midlife Crisis auseinandersetzt, etwa in ihrem 2020 erschienenen Buch „Midlife Crisis: The Feminist Origins of a Chauvinist Cliché“.

Schmidt erklärt: „Die US-amerikanische Journalistin Gail Sheehy veröffentlichte 1974 das Buch ‚Passages‘, in dem das Phänomen erstmals umfangreich beschrieben wird.“ Sheehy führte über 100 Interviews mit Frauen und Männern zwischen 20 und 50 Jahren aus der vorrangig weißen, gut situierten Mittelschicht. Dabei erkannte sie, dass Personen von Mitte 30 bis 50 häufig unglücklich mit ihrem Leben waren. Frauen seien vor allem „unzufrieden mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter und den aus den 50er-Jahren stammenden Gesellschaftsnormen“ gewesen, so Schmidt. Im Unterschied zu jüngeren Befragten, die häufig angaben, mit ihrem Leben im Großen und Ganzen zufrieden zu sein, hätten Personen zwischen Mitte 30 und 50 oftmals den Drang verspürt, aus ihrem Alltag auszubrechen und ihr Leben anders zu gestalten – etwa, indem sie ihre Universitätsbildung nachholen oder eine neue Karriere beginnen.

Der Perspektivenwechsel weg von den feministischen, emanzipatorischen Ursprüngen der Midlife Crisis hin zum heute noch verbreiteten „Playboy-Klischee“ fand nur wenige Jahre nach Sheehys Veröffentlichung statt. Männliche Psychologen und Psychiater kritisierten Sheehys feministische und auf Frauen fokussierte Sichtweise und veröffentlichten kurze Zeit später eigene Werke, in denen sie Erkenntnisse ihrer Untersuchungen mit Männern schildern und erläutern, dass die Midlife Crisis nur diese betreffe. Wie Schmidt erklärt, betrachteten jenen Autoren den Mann als die neutralste Grundlage für die Forschung und die Midlife Crisis als eine natürliche Entwicklung des Mannes auf der Suche nach seiner Identität.

Midlife Crisis – nur ein Mythos?

Wie viele Menschen rund um die Mitte ihres Lebens in eine psychische Krise geraten, die sich als Midlife Crisis beschreiben lässt, ist kaum abzuschätzen. Das liegt vor allem daran, dass es an allgemein gültigen Kriterien für eine Midlife Crisis mangelt. In den 2000er-Jahren erforschten die Soziologin Elaine Wethington und die Psychologin Margie Lachman die Midlife Crisis und fanden heraus, dass schon damals nur rund 10 bis 20 Prozent der Menschen eine Midlife Crisis verspürten.

„Ihr könnt noch ein bisschen gelassen sein – die Zufriedenheit nimmt später wieder zu.“ Doreen Weigand, Psychologin und Psychotherapeutin

Seither argumentierten weitere Forscher*innen, dass die Midlife Crisis ein soziokulturelles Konstrukt sei und nicht unbedingt ein allgemeines Phänomen darstelle. Das Wohlbefinden und die psychologische Entwicklung eines Menschen im mittleren Lebensalter hänge von vielen individuellen und sozialen Faktoren ab.

Doreen Weigand ist Psychologin und Psychotherapeutin. An der psychotherapeutischen Ambulanz der Humboldt-Universität Berlin beschäftigt sie sich mit Themen wie Depression, Angststörungen, Burnout, aber auch mit Coaching und allgemeiner Lebensberatung. Zur Midlife Crisis erklärt sie, dass die Wissenschaft durchaus einen „Gipfel der Unzufriedenheit“ festgestellt habe: „Die Lebenszufriedenheit nimmt tatsächlich im ‚mid life‘, also ungefähr um die 40 herum, oftmals für gewisse Zeit ab“. Dies stelle sie auch immer wieder bei ihren Patient*innen fest. Sie rate ihnen dann, entspannt zu bleiben: „Ihr könnt noch ein bisschen gelassen sein – die Zufriedenheit nimmt später wieder zu.“

„Wenn wir heute von der Midlife Crisis sprechen, so sprechen wir ja nicht mit todernster Miene von einer richtigen Diagnose – in der Regel ist das ein ironischer Begriff.“ Susanne Schmidt, Historikerin

Was ist Auslöser dieser negativen Gefühle in der Lebensmitte? „Es scheint eine Bilanzierung zu sein. Den Menschen wird bewusst: Mir stehen nicht mehr alle Wege offen, ich habe nicht mehr diese komplette Freiheit und merke plötzlich, ich muss meine Zeit nutzen“. Die Endlichkeit des Lebens werde zunehmend deutlicher.

Doch die Darstellung der Midlife Crisis als allgemeines Phänomen kann auch negative Folgen haben, etwa wenn psychische oder physische Gesundheitsprobleme ignoriert und ihre Symptome einer Midlife Crisis zugeschrieben werden.

Laut der Historikerin Susanne Schmidt sollte auch nicht vergessen werden: „Wenn wir heute von der Midlife Crisis sprechen, so sprechen wir ja nicht mit todernster Miene von einer richtigen Diagnose – in der Regel ist das ein ironischer Begriff.“

Boomer vs. Gen X vs. Millennials

Wie unterscheiden sich nun die Empfindungen der Millennials von jenen ihrer Eltern, Großeltern oder älteren Geschwister? „Die Generationen, die zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1980 geboren wurden, haben – zumindest in westlichen Mittel- bis Oberschicht-Haushalten – sehr stabile Zeiten erlebt und sind in recht gesicherten Verhältnissen aufgewachsen“, sagt Weigand.

Sie hätten in ihrer Jugend zwar starre Geschlechterrollen und gesellschaftliche Erwartungen erlebt, hatten aber eine realistische Aussicht, durch ihre Arbeit eine Familie zu versorgen, sich im Laufe des Lebens ein Eigenheim zu leisten und zusätzlich Geld fürs Alter anzusparen. Dieses Gefühl von „Es wird immer besser, es geht voran“ sei jetzt das erste Mal wieder unterbrochen, sagt Weigand. Denn aktuell würden wir in Mitteleuropa erstmals wieder Krisen erleben, die direkt bedrohlich seien, wie etwa die Corona-Pandemie. Natürlich hätten auch die Gen X sowie die Babyboomer Krisen erlebt – Stichwort Kalter Krieg, Tschernobyl, Golfkriege –, allerdings vielleicht nicht in einer derart weltumspannenden und ausweglos erscheinenden Dimension wie die Klimakrise.

Im Zeitalter von wirtschaftlichen Turbulenzen, finanzieller Unsicherheit, mangelnden Aussichten auf Festanstellungen, der Pandemie, der Klimakrise sowie dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist von Stabilität und Sicherheit wenig spürbar. Und Studien wie der „Emerging Millennial Wealth Gap“-Report zeigen, dass die Generation der Millennials in den USA rund 20 Prozent weniger verdient als ihre Elterngeneration, die Babyboomer, in der gleichen Lebensphase.

Dass viele das Gefühl verspüren, in einer Art Dauerkrisenzustand statt in einer Midlife Crisis zu stecken, liegt laut Weigand auch an einem weiteren Punkt: „Wir haben heute eine andere Informationsdichte.“ Anders als früher werden wir heute ständig über Krisen informiert. „Unser Sicherheitsempfinden korreliert nicht unbedingt mit den real sicheren oder unsicheren Verhältnissen, sondern hängt wesentlich damit zusammen, wie viel wir davon mitbekommen.“

Midlife Crisis als Privileg

Klar ist: Wer es sich leisten kann, aus Fadesse über den Sinn des Lebens zu grübeln, hat es im Großen und Ganzen wohl ganz gut erwischt. Klar ist auch: Millennials sind in einer von wirtschaftlicher Unsicherheit geprägten Zeit aufgewachsen. Sie hatten mit Herausforderungen wie dem Einstieg in den Arbeitsmarkt während einer Finanzkrise zu kämpfen, hangeln sich nach einer Reihe schlecht- oder unbezahlter Praktika jetzt von einem befristeten Job zum nächsten, während sie versuchen, die steigenden Lebenshaltungskosten zu stemmen, und sind häufig von Zukunftsängsten geplagt. Das Versprechen, es werde alles immer besser, löst sich nicht mehr ein – stattdessen erwarten sie weitere Krisen.

Auch dass Millennials oft gelernt haben, ständig erreichbar sein zu müssen, und sich häufig mit anderen in sozialen Medien vergleichen, erhöht Druck und psychische Belastungen. Die rasche Entwicklung von Technologie und Automatisierung sorgt dafür, dass Millennials große Flexibilität beweisen und sich an die rasant verändernde Arbeitswelt anpassen müssen, um mit den Anforderungen des digitalen Zeitalters mithalten zu können. All diese spezifischen Umstände und Stressfaktoren können zu einer anderen, womöglich länger andauernden, Art von Krise führen, als es bei früheren Generationen der Fall war.

Wer sich vom Dauerkrisenzustand erdrückt fühlt, dem rät Weigand, „sich sein eigenes kleines Universum so sicher und stabil wie möglich zu gestalten, mit stabilen sozialen Beziehungen, einer guten Tagesstruktur, einer guten Balance aus sinnvollen Aktivitäten, aus denen ich mir Anerkennung hole, aber auch positiven Aktivitäten, die mir ein Glücksgefühl bringen“.

Soziolog*innen sehen in empfundener Unzufriedenheit und Ärger über die eigene Lebenssituation auch eine Chance: So könne Unsicherheit auch dafür sorgen, dass Menschen sich zusammentun, auf Missstände hinweisen und gemeinsam für Veränderung eintreten – was in der Folge womöglich die Lösung der einen oder anderen Krise herbeiführen könnte.

Ein Blick auf Instagram, TikTok und in Online-Foren zeigt: Wenngleich das Internet durchaus zum Gefühl der „Dauerkrise“ beiträgt, so hilft es auch, sich bewusst zu machen: „Ich bin nicht allein. Vielen anderen geht es genau wie mir“. Das kann vielleicht ein bisschen Erleichterung bringen. Auch wird schnell klar: Bei allem Frust und Ärger, den viele Millennials verspüren, ist ihnen der Humor zumindest noch nicht abhandengekommen.

So teilen einige Millennials ihren Frust über die ausweglos scheinende Dauerkrisensituation auf humorvolle Weise in kurzen TikTok-Videos oder scherzen darüber, dass sie die Midlife Crisis einfach übersprungen hätten. Denn in der Quarantäne während der Covid-19-Pandemie seien sie in Ermangelung an Alternativen direkt zu typischen „Old-People-Aktivitäten“ übergegangen. Gärtnern zum Beispiel.

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Autor*in: Luise Mbaduko

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