Zweifach unsichtbar: Zwangssterilisation bei Frauen mit Behinderungen
Die derzeitigen Gewaltschutz-Pakete schützen Frauen mit Behinderung zu wenig. Ihre Belange kommen kaum vor. Sichtbar wird das beim Thema Zwangssterilisation.
Als der junge Mann nachts aus der U-Bahn steigt, wird er von drei breitbeinigen, auf Krawall gebürsteten Frauen verfolgt. Er hat Angst, geht schneller, es ist dunkel, die Frauen pöbeln ihn an, rufen ihm Beschimpfungen hinterher. Dass er selbst schuld ist, denkt er, dass er zuhause in der Küche hätte bleiben sollen, wo er hingehört. Diese Szene wird in einer der Kurzgeschichten geschildert, die Jugendliche im Rahmen eines Workshops mit mir erarbeitet haben. Wir haben über Rollenbilder gesprochen und Geschlechterklischees, über sexualisierte Gewalt und die Macht der Umkehrung.
Dass ich mit diesen Themen an Schulen gehe, ist mir eher zufällig passiert. Als 2019 mein zweiter Roman „Das Licht ist hier viel heller“ erschienen ist, wurde ich von Deutschlehrerinnen eingeladen, die in ihren Klassen nicht nur über Goethe und alte weiße Männer reden wollen, sondern über Literatur von Frauen, aktuelle Probleme aus der Lebenswelt Jugendlicher, verkrustete patriarchale Strukturen und was es braucht, um sie zu sprengen. Vor meiner ersten Schullesung war ich angefüllt mit Adultismus, weil wir Älteren gern glauben, Wissen sei eine Einbahnstraße, wir geben es großzügig an Jüngere weiter, aber es hat gefälligst nichts zurückzukommen außer Dankbarkeit – schon gar nicht etwas, das uns unbekannt ist.
Seit 2019 weiß ich, dass eine neue Generation heranwächst, die wach und aufmerksam ist, unerschrocken und wütend.
Heute würde mich nicht mehr erstaunen, was dann geschehen ist: Ich bin an diesen Schulen jungen Frauen begegnet, die unglaublich interessiert und informiert waren, die auf hohem Level diskutiert und hervorragende Redebeiträge geleistet haben. Sie haben mich so nachhaltig beeindruckt, dass ich inspiriert von ihnen die fiktive Lola in meinem Roman „Die Wut, die bleibt“ geschrieben habe, die in jeder Hinsicht Raum einnimmt und sich nicht mundtot machen lässt.
Durch die Lesungen an Schulen habe ich viel gelernt. Seit 2019 weiß ich, dass eine neue Generation heranwächst, die wach und aufmerksam ist, unerschrocken und wütend. Dass wir jungen Menschen zuhören müssen, statt sie zu belehren. Seit 2019 habe ich ein bisschen Hoffnung.
Als nun Ende Mai 2023 die Irin Shelby Lynn klare Anschuldigungen gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann öffentlich machte, ging ein Raunen durch Social Media, durch die deutsche Medienwelt – und durch meine Chatgruppen, in denen ich mit anderen Autorinnen und Journalistinnen im Austausch bin. Die meisten von ihnen sind so alt wie ich, sie kämpfen, jede für sich und wir alle gemeinsam, seit Jahren gegen Misogynie und Unterdrückung.
Als wenig später Kayla Shyx ihr Youtube-Video online gestellt hat, um die Anschuldigungen zu bestätigen und ihre eigenen Erlebnisse zu schildern, haben manche von uns geweint. Es waren Tränen der Verbundenheit und der Erschöpfung, Tränen voller Schmerz und Schuldgefühl: dass es diesen Frauen, die nach uns kommen, immer noch ergeht wie uns. Wie eine Armada der Schwesterlichkeit haben wir gepostet und getwittert und geteilt und unsere Reichweite genutzt, um zu zeigen: Wir sehen euch. Wir hören euch. Wir glauben euch.
Haben sich, während die Welt dieselbe geblieben ist, die Frauen verändert? Shelby Lynn und Kayla Shyx sind nicht zurückgewichen, auch nicht, als es Abmahnungen gab und ein Meer an Hasskommentaren. Dass nach wie vor eine Hetzjagd auf Frauen losgetreten wird, die über sexualisierte Gewalt sprechen, ist einer der Gründe, warum viele von ihnen schweigen.
Wie kann es also sein, dass Shelby und Kayla laut geworden sind, und wie lässt sich erklären, dass sie das Machtungleichgewicht erkennen, punktgenau analysieren und anklagen können? Studien zeigen, dass eine neue Riege weiblicher Visionärinnen dabei ist, die Arbeitswelt und die gesamte Gesellschaft zu erobern: In ihrem Buch „Arbeit auf Augenhöhe“ schildert Lena Marie Glaser beispielsweise anhand der Studie „The Female Millennial: A new era of talent“, dass junge Frauen in höherer Zahl und besser ausgebildet als bei irgendeiner anderen Generation zuvor in sämtliche Bereiche strömen. Sie sind selbstbewusster, tougher, klüger. Sie haben einen entscheidenden Wissensvorsprung, der ihnen einen Startvorteil verschafft.
Wenn ich mit 16-jährigen Mädchen rede und merke, dass sie über die Anliegen des Feminismus Bescheid wissen, wird mir klar, dass das einen Unterschied macht: Sie laufen am selben Punkt los, aber 25 Jahre früher. Und wer sieht diese jungen Frauen und ihren Heldinnenmut, ihre Standhaftigkeit, ihre Entschlossenheit? Meine Tochter.
Diese Mädchen sind einander Vorbilder. Sie sind präsent, und dieser Startvorteil, den sie sich erarbeitet haben – natürlich dank gewisser Privilegien wie Zugang zu Ressourcen und Bildung, das dürfen wir nicht unerwähnt lassen –, ist nicht mehr auszuradieren. Frauen können ihn jetzt und in Zukunft jederzeit nutzen.
Nun muss man klar sagen: Mutige Frauen gab es schon immer. Frauen, die sich nicht ins Schweigen haben drängen lassen, Frauen, die mit erhobenem Kopf Worte gefunden haben für Ungerechtigkeit und Diskriminierung, Frauen, die mit schlimmsten Sanktionen für ihr Aufbegehren abgestraft wurden, die ihr Leben verloren haben, die aus den Jahrhunderten herausleuchten durch ihre Unerschrockenheit. Was haben also die heute zwanzigjährigen Frauen der Gen Z, das die Frauen meiner Generation – die wir ihre Mütter sein könnten und teilweise ja auch sind – nicht hatten, das sämtliche Ahninnen und Vorfahrinnen nicht hatten? Die Antwort ist so offensichtlich wie bahnbrechend: das Internet.
Das World Wide Web mag eine Schlangengrube sondergleichen sein, aber in Sachen Missbrauch und #MeToo ist es vor allem ein nie dagewesenes Tool der Sichtbarmachung. Shelby Lynn hat bewundernswerte Courage bewiesen, der Akt der Öffentlichmachung war niedrigschwellig und selbstbestimmt: ein Post. Diese Art der Anklage ist für die ganze Welt sichtbar, ein schriftliches Zeugnis, das von den potenziellen Tätern nicht so leicht ausgelöscht werden kann, auch wenn sie es natürlich versuchen. Um heute mit Wirkmacht und eigenen Worten über Gewalt sprechen zu können, sind ein Social-Media-Account und eine Internetverbindung notwendig. Dieser Account liegt in der Hand der Betroffenen, sie hat dort Redefreiheit.
Und Zuhörer*innen. Wenn du früher als Frau missbraucht wurdest, an wen solltest du dich wenden? Es gab den Familienkreis, es gab – je nachdem, von welcher Zeit und welchem Ort wir ausgehen, aber ähnlich war es immer und überall – einen Dorfpolizisten, einen Bürgermeister, einen Zeitungsmacher, alles Männer, die sehr wahrscheinlich Teil der Maschinerie waren, die Täter schützt.
Wenn du früher als Frau missbraucht wurdest, wie hättest du die Beschämung aufbrechen und weitere Betroffene finden können, die sich mit dir zusammengetan hätten? Denn das ist das Internet auch: eine unschlagbare Möglichkeit der Vernetzung. Die tausenden Nachrichten, die Shelby Lynn und Kayla Shyx erhalten haben, kamen nicht nur von Menschen, die sie diskreditieren wollten, sondern auch von Frauen, die geschrieben haben: Diese Geschichte ist auch meine Geschichte. Shelby Lynn war am Anfang allein, aber sie ist es nicht lange geblieben.
Und das ist der dritte Punkt, der das Internet zum ersten großen Resonanzraum für die Forderung nach Gerechtigkeit macht: Es ist ein starkes Mittel der Solidarisierung. Mit viel Glück hättest du früher eine Handvoll Frauen gefunden, die sich schwesterlich verhalten, dich nicht mit Schimpf und Schande beworfen, dir geglaubt und dich im Verborgenen getröstet hätten. Heute dagegen reicht die Solidarisierung über den gesamten Globus.
Jede dieser öffentlichen Anklagen – ob es um Till Lindemann geht oder Johnny Depp oder Harvey Weinstein – hat einen weltweiten Nachhall, der einem Erdbeben gleichkommt. Eine Erschütterung und noch eine und noch eine. Das ist die Lautstärke, die Gen Z erzeugen kann. Das ist die Lautstärke von weiblicher Solidarität. Und deshalb werden diese jungen Frauen jetzt gehört. Unterdrückung funktioniert durch Vereinzelung und Isolierung, und in den Generationen zuvor waren Frauen durch gezielte patriarchale Strategien meist eben genau das, vereinzelt und isoliert. Aber das sind wir nicht mehr.
Und jetzt reden wir noch über den Elefanten, der sich mitten im Raum befindet: die Männer. Was ist mit ihnen? Wo stehen sie, Seite an Seite mit den mutigen Frauen oder ihnen im Weg? Ja, es gibt auch in der Gen Z Männer, die sich an den Privilegien festkrallen, die das Patriarchat ihnen zuteilt, die ihre Augen verschließen und um sich spucken in ihrer Panik, weil sie merken, dass das Versprechen vom glücklichen Leben eine leere Lüge war. Ja, der Autor Nils Pickert hat Recht, wenn er in seinem Standard-Artikel vom 16. Juni 2023 den Männern vorwirft, bei jedem Übergriff so zu tun, als wäre nichts, und männliche Gewalt wie eine Naturkatastrophe zu betrachten, gegen die niemand was ausrichten kann.
Aber – und das ist der Plot-Twist – die Geschichte, die ich eingangs zusammengefasst wiedergegeben habe, hat ein 16-jähriger Mann geschrieben. Er war es, der den Workshop mit mir überhaupt initiiert hat, indem er so beharrlich mit meinem Roman unter dem Arm durch seine Schule marschiert ist, bis die mich eingeladen hat. „Heute bin ich wütend, dass Sascha Lobo beim OMR Festival über die Abschaffung des Patriarchats reden soll. Als weißer, privilegierter Mann“, hat er gesagt, als wir mit der Diskussion begonnen haben.
Und er ist bei Weitem nicht der Einzige. Bei vielen Schullesungen erlebe ich, dass zwar typisch misogyne Ansichten reproduziert werden wie: „natürlich ist es entscheidend, was ein Mädchen anhat, wenn es vergewaltigt wird, wenn ich ein Auto offenstehen lasse, ist das ja auch eine Einladung“ oder: „Frauen, die Missbrauch anklagen, wollen nur Fame“, dass dann aber nicht nur von ebenjenen mutigen jungen Frauen Widerspruch kommt.
Es braucht Veranstalter, die Konzerte absagen, und Plattenfirmen, die sich von Bands distanzieren, es braucht Filmemacher, die mit Schauspielern nicht mehr drehen, und Unternehmen, die ihnen Werbedeals entziehen, es braucht Konsequenzen für Täter.
Sondern sehr entschieden auch von jungen Männern. Sie stehen auf, sie sagen zu ihren männlichen Klassenkameraden und Freunden: „Hör auf, so eine Scheiße zu reden, Mann, lies doch mal nach, das kannst du googeln, du bist im Unrecht.“ Auch das kam für mich anfangs unerwartet, auch das erstaunt mich heute nicht mehr. Es bestärkt mich darin, dass ich mich neben meiner Tochter auf einen weiteren Menschen konzentriere, mit dem ich über diese Themen spreche, dem ich alles Wissen, das ich habe, mitgebe, damit er Veränderung bewirken kann, und das ist mein Sohn.
Denn die furchtlosen jungen Frauen, die am Fundament des Patriarchats rütteln, werden es nicht allein zum Einsturz bringen können. Es braucht dazu Männer, die verstehen, dass ihr Schweigen und Wegschauen den Tätern hilft, es braucht uns alle. Es braucht Menschen, die den Mund aufmachen und einen Nachhall erzeugen, es braucht Veranstalter, die Konzerte absagen, und Plattenfirmen, die sich von Bands distanzieren, es braucht Filmemacher, die mit Schauspielern nicht mehr drehen, und Unternehmen, die ihnen Werbedeals entziehen, es braucht Konsequenzen für Täter.
Es braucht Medien, die nicht aus der Täterperspektive heraus auf die Betroffenen blicken, es braucht den gesellschaftlichen Konsens, dass sich nicht die Person zu schämen braucht, die vergewaltigt wurde, sondern der Vergewaltiger. Diese jungen Frauen setzen ihre Schritte sehr entschlossen – und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um ihnen den Weg zu bereiten.
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