„Man darf auch Spaß an Dingen haben, hinter denen man nicht hundertprozentig ideologisch steht“
Und was schaust du? Screenshot: Netflix
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Anna Mayrhauser
Redaktionsleiterin

„Man darf auch Spaß an Dingen haben, hinter denen man nicht hundertprozentig ideologisch steht“

Wenn sich der Netflix-Filmüberblick rot und grün färbt, stehen die Weihnachtsfeiertage vor der Tür. Die Literaturwissenschaftlerin und Weihnachtsfilm-Expertin Andrea Geier im Gespräch über ein kulturelles Medienphänomen, das alle Jahre wieder kommt.

Eigentlich wäre dieser Text hinter der Paywall. Als kleines Weihnachtsgeschenk für dich haben wir ihn freigeschalten. Viel Freude beim Lesen!🎁

Frau Geier, hat sich das Phänomen des Weihnachtsfilmeschauens in den letzten Jahren verändert? 
Andrea Geier:
 Zum einen gibt es deutlich mehr romantische Komödien unter den Weihnachtsfilmen. Sender wie Hallmark in den USA sind berüchtigt dafür, immer wieder in großer Menge romantische Komödien nach einem ganz ähnlichen Strickmuster zu produzieren. Auch bei Netflix finden wir das, und auch hier dominieren US-amerkanische Geschichten, aber es wird auch versucht, stärker länderspezifische Angebote zu machen. Was sich auch verändert hat, ist das Personal. Es ist diverser geworden. 

Was heißt das?
Wenn man sich ansieht, wer in diesen Filmen, besonders in Romcoms, unter dem Weihnachtsbaum steht oder in der Kirche sitzt, dann ist die Gesellschaft, die gezeigt wird – im Gegensatz zu früher – diverser geworden. Aber das heißt nicht, dass sich diese Filme nun mit Rassismus auseinandersetzen. Nur die Besetzung hat sich geändert. 

Weihnachtsfilme gibt es ziemlich viele. Welche Kriterien machen einen Film zum Klassiker? Auf den gängigen Top-Ten-Weihnachtsfilm-Listen, die jedes Jahr kursieren, stehen eigentlich immer mehr oder weniger die gleichen Filme, viele sind auch schon wieder zwanzig Jahre alt.  
Das fertige Weihnachtsfilmrezept gibt es nicht. Der Weihnachtsfilm kommt in vielen verschiedenen Genres vor. Die Hard zum Beispiel funktioniert als Weihnachtsfilm, aber er wurde natürlich vor allem als Actionfilm geplant, der ganzjährig sein Publikum finden soll. Der Episodenfilm Tatsächlich Liebe – einer der modernen Klassiker – hat eine großartige Besetzung und ist auch von der Vielfalt der Geschichten her sehr ansprechend gemacht. Da ist viel Mühe ins Drehbuch und in die Charakterisierung der Figuren geflossen, es kommen unterschiedliche Emotionen und Geschichten vor. Nicht jede Episode hat ein Happy End, der Film erzählt auch komplexer von Beziehungen, von Paaren, die schon länger zusammen sind und ihren Krisen. 

Auch die Klassiker, die immer wieder im deutschen Fernsehen laufen, etwa Der kleine Lord und Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, sind einfach sehr gut gemachte Filme. Diese Filme bringen eine eigene Filmgeschichte mit. Sie werden auch deswegen so gerne wiederholt angesehen, weil sie so eine lange eigene Tradition mitbringen von: „Das schaut man sich zu Weihnachten an“. 
Und weil sie stark – das sieht man auch an der Fankultur – in familiäre Filmgeschichtstraditionen eingehen. So etwas kann man nicht planen. Die Filme, die auf diesen Listen immer wieder auftauchen, verbinden aber oft beides: Sie sind sehr gut gemacht und haben einen nostalgischen Wert.

Was die tag-eins-Redaktion rund um Weihnachten am liebsten schaut

„Als Kind habe ich jedes Jahr Das letzte Einhorn geschaut, heute greife ich zu irgendwelchen kitschigen Streaming-Schnulzen, Hauptsache Weltschmerz ausblenden. Kevin – Allein zu Hause? Schwierig – ich leide viel zu sehr mit den Einbrechern mit. Nicht weihnachtlich, aber trotzdem immer wieder witzig: Grease und 10 Dinge, die ich an Dir hasse.

Jolanda Allram

Der Weihnachtsfilm gilt gemeinhin als kitschig und die heile Welt abbildend. Tatsächlich werden in ihm aber oft familiäre und auch gesellschaftliche Krisen verhandelt. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesen Krisen und Weihnachtsfilmen? 
Der Weihnachtsfilm hat eine Lizenz dafür, von Krisen zu erzählen. Zum Genrewissen gehört aber auch, dass es gut ausgehen wird. Wenn Armut vorkommt, wenn Arbeitslosigkeit vorkommt, wenn Krisen in der Gemeinschaft vorkommen, ist das von vornherein in eine Happy-End-Struktur eingebunden.

Eine eigene Filmtradition hat die Geschichte vom Weihnachtshasser, also die des klassischen Kapitalisten aus Charles Dickens Eine Weihnachtsgeschichte. Der Weihnachtshasser muss bekehrt werden, und so wird er zum besseren Menschen und letztlich auch zum menschlicheren Kapitalisten. Das erzählt von Wünschen und Problemen unserer Gesellschaft: dass es Menschen gibt, die die Macht haben, andere ins Unglück zu stürzen. Das ist natürlich nicht mehr der gleiche Kapitalismus wie zu Dickens Zeiten. Doch es ist eine abstrahierte Figur, die in zahlreichen Verfilmungen bis heute noch wirkt. 

Tatsächlich … Helene! Ja, das würde man jetzt wirklich nicht erwarten. Aber inzwischen ist es jedes Jahr am 25. Dezember Tradition, dass sich die ganze Familie Biller (rein ironisch) um den Fernseher versammelt und gemeinsam drei Stunden lang die artistischen Verrenkungen und die Stimmgewalt von Helene Fischer bestaunt. Ich weiß nicht, ob ich dieses Schlager-Spektakel unbedingt empfehlen würde, aber es nicht zu schauen, fühlt sich auch komisch an.

Da fällt die Entscheidung bei Tatsächlich … Liebe schon leichter. Das muss jedes Jahr mindestens einmal sein. Eh aufgelegt, aber ohne die problematischen Aussagen von „Rockstar“ Bill Nighy, dem rhythmischen Hüftschwung von Hugh Grant als Premierminister und dem Lovetriangle rund um Keira Knightley wär Weihnachten nicht Weihnachten.“

Emil Biller

Was die familiären Krisen angeht: Einer meiner Lieblingsweihnachtsfilme ist der österreichische Anti-Weihnachtsfilm Single Bells: Alle streiten, ein Kind kotzt vor dem Christbaum und am Ende brennt natürlich der Baum brennt. Warum ist das so entlastend?
Weihnachtsfilme erzählen von der Sehnsucht nach Wundern und Harmonie. Aber sie haben auch ein Wissen in sich, dass diese Tradition, die wir jedes Jahr wieder aufführen, vielleicht gar nie so schön war, wie wir sie uns erträumen. Und sie wissen, dass diese Harmonie unter Mühen und Arbeit hergestellt werden muss. Das macht Weihnachten auch so emotional aufgeladen und anstrengend. Wenn dann im Film alles schief geht, hilft das dem Publikum, sich zu sagen: Ok, so dramatisch wird es bei uns schon nicht werden. Gleichzeitig entwickeln diese Komödien oft aus dem Chaos heraus ein Happy End. Erwartungen ans Fest werden zwar nicht eingelöst, aber selbst wenn alles schiefzugehen scheint, besinnt man sich auf die „eigentlichen Werte“.  So etwas wie „Hauptsache, wir sind alle zusammen“, wie etwa in Kevin – Allein zu Haus. 

„Ein besonderer Weihnachtsklassiker ist für mich die Herr der Ringe-Trilogie von Peter Jackson, die in meiner Jugend stets in der Adventszeit in die Kinos kam. Überhaupt liefen rund um Weihnachten verlässlich epische Blockbuster in den Kinos und als kleine Weihnachtstradition sind wir zum Friendsmas immer am 23. Dezember ins Kino gegangen. Heute macht mir ein viel kürzeres Weihnachtsvideo Freude und bringt meinen Kindern einen meiner Kindheitsheros näher: Der inzwischen 76-jährige Otto Waalkes In der Weihnachtsbäckerei.“

Dominik Ritter-Wurmig

Weihnachten ist gerade für Frauen eine Zeit, in der sehr viel Care-Arbeit und unsichtbare Arbeit anfällt. Kein Wunder, dass man sich dann gerne in eine Romcom flüchtet, wo man plötzlich Prinzessin auf einem Schloss ist und gar nichts mehr zu tun hat.
Die deutsch-britische Autorin Jacinta Nandi hat die Theorie aufgestellt, dass Romcoms in der allgemeinen Wahrnehmung oft ein bisschen als lächerlich gelten, weil darin Frauen gute Dinge passieren. Lässt sich das auch auf den Weihnachtsfilm übertragen?

Auf jeden Fall gelten sie als ein bisschen lächerlich. Diese Romcoms erzählen oft von Zufällen, mitunter von sehr absurden: Man kommt plötzlich auf irgendein Schloss, so wie die Bestsellerautorin in A Castle for Christmas und lebt da ein neues Leben. Das ist gerade deshalb attraktiv, weil es nicht realistisch ist.
Das bedient vor allem unsere Wunderbedürftigkeit und die Sehnsucht danach, dass man nicht alles immer planen muss und kann. 

Interessant ist auch, dass viele Weihnachts-Romcoms von Berufsveränderungen erzählen. Es sind klassische Heimkehrer-Geschichten: Die Businessfrau kommt aus der Großstadt nach Hause in die Kleinstadt zurück, bleibt dort, trifft ihre alte College-Liebe wieder und versöhnt sich mit ihr.

Aber es wird heute nicht mehr so getan, als bräuchten diese Frauen ein Wunder oder eine Veränderung, weil sie so unglücklich sind. Sondern sie sind sehr gut in ihrem Beruf verankert, stellen dann aber fest: Ich könnte ja auch mal etwas anderes tun, ich hatte ja eigentlich mal andere Ziele. Die Smalltown-Magic hilft dann, sich die Frage zu stellen: „Wie und mit wem will ich eigentlich leben? Und das macht natürlich den Vorwurf der Lächerlichkeit problematisch. Denn das sind wichtige grundsätzliche Fragen. Sie werden mit viel Zuckerguss serviert, der auch visuell Spaß macht – man denke an die vielen Rot-Grün-Töne – aber das macht sie nicht weniger drängend.

Die Muppets Weihnachtsgeschichte wärmt schon seit 1993 mein weihnachtliches Herz. Keiner bringt die Geschichte vom Ur-Weihnachtsgrinch Ebenezer Scrooge so rüber wie Kermit, Gonzo und Miss Piggy. Außerdem liebe ich Weihnachtsfilme, in denen sich große chaotische Familien über die Feiertage treffen und anschreien.

Den österreichischen Komödienklassiker Single Bells habe ich mir deshalb jahrelang direkt vor der Bescherung angeschaut. (Heute muss ich da die Bescherung vorbereiten). Auch Family Stone – Verloben Verboten! fällt in diese Kategorie. Ein ikonischer Weihnachtsfilm-Moment ist für mich, wenn die rebellische Tochter der Familie am Weihnachtsvorabend plötzlich beim anderen Weihnachtsfilmklassiker Ist das Leben nicht schön? zu weinen beginnen muss. 

Außerdem empfehle ich zwei Texte, nach denen man sich seine liebsten Weihnachtsfilme nie wieder so ansehen kann wie vorher: über Kevin –Alleine zu Haus und Tatsächlich…Liebe. (Die ich mir natürlich jedes Jahr trotzdem anschauen will).

Anna Mayrhauser

Es gibt viele Abhandlungen darüber, wie sexistisch gewisse Weihnachtsfilme sind. Und oft erzählen sie ja tatsächlich davon, dass am Ende die heteronormative Familie in der Kleinstadt doch das Beste ist. Auf der anderen Seite gibt es filmisch auch viel Witz und Subversion und einen parodistischen Umgang mit dem Fest. Sehen Sie eine Modernisierung oder eher einen Backlash? 
Das Angebot ist so vielfältig, dass es beides gleichzeitig gibt. Der Weihnachtsfilm ist weiterhin sehr heteronormativ und stark auf die Kleinfamilie fixiert. Doch ich würde immer dafür plädieren zu sagen: Niemand schaut nur diese Art von Filmen. Das ist eben Saisonware und mit Nostalgie aufgeladen. Und man darf auch Spaß an Dingen haben, hinter denen man nicht hundertprozentig ideologisch steht. Wer stellt dieselbe Frage an Actionfilme? Dass der Weihnachtsfilm so in der Kritik steht, sollte auch zum Nachdenken anregen. 

Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Trier. Sie ist Mitherausgeberin von zwei Bände zum Thema Weihnachtsfilm und arbeitet gerade an einem dritten. 

Autor*in: Anna Mayrhauser

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