Warum die New York Times die EU-Kommission wegen einer SMS verklagt
Eigentlich hat jede und jeder das Recht auf Zugang zu Dokumenten der EU. Bei den SMS von Ursula von der Leyen will die EU-Kommission davon jedoch nichts wissen. Journalist Alexander Fanta lässt nicht locker und löst dadurch eine Lawine aus.
Beim Durch-Twitter-Scrollen stolpere ich zufällig über den Artikel. Es ist genau der Fall, den ich seit langem suche. Wie gemacht für einen Präzedenzfall.
Ich öffne eine Website, klicke, tippe ein paar Wörter. Noch ein Klick – „Senden“. Es ist ein kleiner Schneeball, den ich den Hügel hinabwerfe.
Meine Anfrage bringt eine Lawine ins Rollen. Wegen ihr läuft in Brüssel bald eine offizielle Untersuchung, Medien in ganz Europa berichten, EU-Abgeordnete fordern Aufklärung. Die renommierteste Zeitung der Welt klagt die EU-Kommission. Aber mehr dazu später.
Recht auf Dokumente
Als ich im August 2018 das erste Mal als Korrespondent von netzpolitik.org den Presseraum der EU-Kommission in Brüssel betrete, ist mein Telefonbuch leer. Das ist schlecht, denn Recherchen funktionieren hier über persönliche Beziehungen, über Netzwerke. Wer näher dran ist, bekommt saftige Leaks und schreibt Geschichten, die knallen. Kritische Stimmen nennen das abfällig „Access Journalism“, denn im Tausch für die Informationen übernehmen Journalist*innen oft den Blickwinkel ihrer Quelle. Dennoch ist diese Art von Journalismus Usus in Brüssel.
Allerdings kenne ich eine alternative Möglichkeit, Dokumente zu beschaffen. Eine, die zu dem Zeitpunkt kaum von Journalist*innen genutzt wird.
Das Zauberwort lautet Verordnung 1049/2001. Dieses Gesetz gibt jedem Menschen in Europa seit zwei Jahrzehnten das Recht auf Zugang zu offiziellen Dokumenten der EU. Warum um Leaks betteln, wenn ich Unterlagen bequem per Mausklick beantragen kann?
Die Sache hat einen Haken. Die Verordnung hat Ausnahmen, die den Zugang zu Dokumenten einschränken. Die EU-Institutionen müssen keine Dokumente herausgeben, wenn durch ihr Bekanntwerden ein Schaden für sie droht. Neueste Papiere aus internationalen Verhandlungen bleiben unter Verschluss, ebenso Geheimdienstinformationen oder geplante Zinsschritte der Europäischen Zentralbank. Auch heikle Informationen, die Privatsphäre oder Geschäftsgeheimnisse verletzen könnten, werden geschwärzt.
Nicht immer sind die Gründe für die Geheimhaltung von Dokumenten nachvollziehbar. Die Bürokratie legt die Ausnahmen oft weit aus, weiter als im Sinne des Gesetzes. Ich pauke Präzedenzfälle und lerne, im juristischen Tonfall Einsprüche zu schreiben. Es ist mühsam, doch mit der Zeit fruchtet es.
Einheitliches Handy-Ladegerät verzögert
Viele meiner Recherchen handeln vom Lobbying großer Technologiekonzerne. Google, Facebook, Microsoft und Apple geben in Brüssel enorme Summen aus, um die Gesetzgebung zu beeinflussen. Durch meine Anfragen erhalte ich tausende Seiten an Unterlagen über Treffen von EU-Kommissar*innen mit Lobbyist*innen.
In einer Recherche kann ich zeigen, wie Apple und Herstellerverbände durch beharrliches Lobbying bei der EU-Kommission über ein Jahrzehnt lang ein einheitliches Ladegerät für Handys verzögern. Das sorgt für Verärgerung unter EU-Abgeordneten, die Kommission muss schließlich nachbessern. Inzwischen ist das einheitliche Ladegerät beschlossene Sache.
Was sich nicht in den Dokumenten befindet
Durch meine Anfragen erhalte ich viele bemerkenswerte Einblicke. Doch es gibt eine Ebene, an die ich nicht herankomme. Es gibt einen Typ von Dokumenten, der in keinem Archiv zu finden ist. Es geht um Absprachen auf höchster Ebene, um schwierige Verhandlungen und Hinterzimmerdeals.
In der Presse sickern immer wieder Informationen durch, die einen Blick in diese Mechanik der Macht erlauben. Im Juli 2015 berichtet die Nachrichtenagentur AP von einem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschef*innen über ein Bail-out für Griechenland. Damals steht das Land kurz vor der Staatspleite, ein Austritt aus der Eurozone droht. Einige fürchten einen Dominoeffekt, einen Zerfall der Gemeinschaftswährung.
Lang nach Mitternacht sitzt EU-Ratspräsident Donald Tusk in dem Raum, in dem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande mit dem griechischen Regierungschef Alexis Tsipras über einen Schuldendeal verhandeln. Die Lage erscheint verfahren, doch dann erfolgt ein Befreiungsschlag. Erst als der niederländische Premier Mark Rutte einen Kompromissvorschlag per SMS an Ratspräsident Tusk schickt, löst sich demnach der Knoten. Und tatsächlich: Es kommt zur Einigung, die Griechenland vor einer Staatspleite rettet.
Eine einzelne SMS habe das Scheitern der Gespräche verhindert – und damit womöglich den Euro gerettet, berichtet die Nachrichtenagentur AP.
Was in der SMS stand, ist vermutlich Schlüssel zu einem historischen Ereignis. Ihr Inhalt bleibt unbekannt – wohl für immer. Rutte gerät später politisch unter Druck, als bekannt wird, dass er seit Jahren täglich alle seine versendeten SMS löscht, und das, obwohl er damit vermutlich gegen das niederländische Archivgesetz verstößt. Der Regierungschef behauptet, sein altes Nokia könne einfach nicht mehr als 20 Nachrichten speichern. Rutte kommt ungeschoren davon.
Ein paar läppische Nachrichten am Handy, die können einfach nicht wichtig genug sein, um aufbewahrt zu werden – mit dieser Erklärung entzieht sich der niederländische Regierungschef seinen Transparenzpflichten. Und nicht nur er.
Handy-Jahre einer Kanzlerin
Als Angela Merkel im Dezember 2021 ihr Amt verlässt, nimmt sie ihr Handy mit. 16 Jahre lang hat sie als Bundeskanzlerin Deutschland per SMS regiert.
Wichtige Entscheidungen, ob in Europa oder im Inland, bereitet die deutsche Kanzlerin durch intensiven Nachrichtenaustausch vor. Kaum jemand in der deutschen Spitzenpolitik, der keine Nachrichten von Merkel bekam.
Ein Bericht im Magazin der Süddeutschen Zeitung fasst Merkels Amtszeit in einer Schlagzeile zusammen: „Handy-Jahre einer Kanzlerin“. Obwohl ihr historischer Wert kaum zu bestreiten ist, landet keine einzige Handy-Nachricht von Merkel im deutschen Bundesarchiv.
Im Mai 2019 bitte ich den Rat der Europäischen Union um alle Nachrichten zwischen den Staats- und Regierungschef*innen und Ratspräsident Tusk. Dieser steht täglich mit den EU-Spitzen in Kontakt, er organisiert Gipfeltreffen und vermittelt bei Streit. Er muss hunderte, ja tausende Nachrichten geschrieben und bekommen haben. Doch der Rat weigert sich kategorisch. Es lägen keine Chats des Ratspräsidenten vor. Die Erklärung: „kurzlebige“ Nachrichten würden nicht gespeichert. Erst wenn ein Dokument eine „wesentliche“ Informationen enthalte, werde es aufbewahrt.
Nur: wer entscheidet, was „wesentlich“ ist?
Im September 2020 frage ich die EU-Kommission, wie viele SMS oder Nachrichten aus Messengerdiensten wie WhatsApp, Telegram oder Signal sie in ihrem Archiv aufbewahrt. Die Antwort: keine. Die Begründung ist originell. Es fehle an den Mitteln, um Handy-Chats zu speichern, heißt es. Zwar könne ihr Inhalt kopiert und einem Akt hinzugefügt werden – doch dann sei ihr Ursprung aus einer SMS nicht mehr nachvollziehbar, Metadaten würden keine gespeichert. Will heißen: Kann schon sein, dass etwas da ist, wir wissen es nicht.
Die Europäische Union hat eigentlich ein klares Prinzip in ihrer Grundrechtecharta festgeschrieben. In Artikel 42 der Charta heißt es, jeder Mensch in Europa habe das Recht auf Zugang zu „den Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, unabhängig von der Form der für diese Dokumente verwendeten Träger.“
Kann zuviel Transparenz schaden?
Bei einem Empfang in Brüssel streite ich mit einer Pressesprecherin. Regierungen müssten vertraulich sprechen, vertraulich handeln können, argumentiert sie. Wenn alles öffentlich werde, seien echte Verhandlungen unmöglich. Hinter verschlossenen Türen biete eine Seite vielleicht Zugeständnisse an, deren Bekanntwerden die Gespräche scheitern lassen oder später für Ärger sorgen könnten.
Der Kuhhandel im Hinterzimmer, auf dem die internationale Diplomatie beruhe, müsse dort bleiben, so lautet das Argument – sonst gebe es keine neuen EU-Gesetze, keine Klimaverträge, keine Friedensgespräche.
Das Argument hallt in mir nach. Was, wenn zu viel Transparenz Schaden anrichtet? Wäre es nicht besser, für Entscheidungen auf höchster Ebene etwas Spielraum zu gewähren?
Kommission brauche "space to think"
Eine Antwort auf diese Fragen gibt der Gerichtshof der Europäischen Union. Im Laufe der Jahre hat er Grundsatzentscheidungen zur Informationsfreiheit gefällt. EU-Institutionen brauchen für ihre interne Entscheidungsfindung einen „space to think“, einen Schutz der Vertraulichkeit ihrer Beratungen. Den Spielraum für Entscheidungsprozesse wahrt das Gericht.
Jedoch erlaubt der EU-Gerichtshof keine pauschale Verweigerung der Transparenz. Wenn der Zugang zu Dokumenten verweigert werde, müsse es eine konkrete und plausible Begründung geben. Das gelte insbesondere dort, wo Gesetze gemacht werden.
„Tatsächlich ist es eher das Fehlen von Information und Diskussion, das bei den Bürgern Zweifel hervorrufen kann.“
EU-Gerichtshof
Immer wieder zwingt das Gericht die EU-Behörden, Dokumente zu veröffentlichen. Transparenz stärke das Vertrauen in die Institutionen, weil sie es ermögliche, Unterschiede zwischen Standpunkten offen zu erörtern, schreibt das Gericht in einem vielbeachteten Urteil: „Tatsächlich ist es eher das Fehlen von Information und Diskussion, das bei den Bürgern Zweifel hervorrufen kann, und zwar nicht nur an der Rechtmäßigkeit eines einzelnen Rechtsakts, sondern auch an der Rechtmäßigkeit des Entscheidungsprozesses insgesamt.“ Wenn die Politik das, was sie hinter verschlossenen Türen macht, nicht öffentlich rechtfertigen will, dann schadet das der Debatte, ja der Demokratie.
Milliarden-Deal per SMS
Was hinter verschlossenen Türen ausgemacht wurde, bringt Von der Leyen später selbst auf die Bühne. Im November 2021 erzählt die Kommissionspräsidentin bei einer Galaveranstaltung in Washington, D.C., eine Heldengeschichte. In ihrer Stimme liegt Pathos. Für Von der Leyen ist es die Chance ihrer Amtszeit. In der Pandemie kann sich Merkels Vertraute an der Spitze der EU-Kommission als Macherin präsentieren.
„Du hast Milliarden Dollar riskiert. Wenn du es nicht probiert hättest, hätte die ganze Welt einen Preis gezahlt.“
Gerichtet sind ihre Worte an Albert Bourla. Der Konzernchef des Pharmariesen Pfizer und die Kommissionspräsidentin stehen an diesem Abend gemeinsam auf der Bühne. Bei dem Gala-Event verleiht der Thinktank Atlantic Council beiden einen Preis für ihre Führungsstärke. Inzwischen sind hunderte Millionen Menschen geimpft, das Vakzin von Pfizer und BioNTech ist eine Erfolgsgeschichte.
„Du und dein Team haben wohl Millionen Menschen das Leben gerettet", sagt Ursula von der Leyen über den Pfizer-Chef Albert Bourla.
Nur Monate nach Ausbruch der Covid-Pandemie habe Bourla die Massenproduktion von Impfstoffen gestartet. Damals sei das Mittel nicht zugelassen, die mRNA-Technologie dahinter unerprobt gewesen, sagt Von der Leyen: „Du und dein Team haben wohl Millionen Menschen das Leben gerettet.“
Bourlas Wagnis macht sich für seinen Konzern bezahlt - die EU kauft für viele Milliarden Euro Impfstoffe ein. Wie viele genau, ist bis heute nicht öffentlich bekannt. Fest steht aber: 2021 kann Pfizer seinen globalen Umsatz im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppeln, auf 81 Milliarden US-Dollar.
Als AstraZeneca und andere Pharmafirmen im Frühjahr 2021 versprochene Impfdosen nicht liefern, verhandelt die Kommissionschefin persönlich mit Bourla neue Lieferungen aus. Die EU hat zu dem Zeitpunkt bereits Verträge über 600 Millionen Dosen mit Pfizer abgeschlossen. Nun kauft Von der Leyen 1,8 Milliarden Dosen zusätzlich, etwa vier für jeden Menschen in der EU.
Wie sie das geschafft hat, erzählt Von der Leyen der New York Times. Die Zeitung titelt: „Wie Europa einen Pfizer-Impfstoff-Deal mit Chat-Nachrichten und Anrufen einfädelte“.
SMS sind zeithistorisches Dokument
Gewisse Details passen nicht in diese Heldenerzählung. Von der Leyen erhält seither unangenehme Fragen zu ihrem Milliardendeal, die sie nicht beantworten will.
Was genau mit den Herstellern vereinbart wurde, wie diese Übereinkünfte zustande kamen, hält die EU-Kommission bis heute unter Verschluss. Die Kaufverträge mit den Impfstoffherstellern legt die Kommission nur mit vielen Schwärzungen vor. Informationen über die gezahlten Preise, Lieferzeiten, klinische Studien, Haftungsfragen und Abmachungen zur Streitbeilegung fehlen in den öffentlichen Versionen der Verträge.
Besonders viele offene Fragen gibt es zum größten Impfstoffdeal – jenem, den Von der Leyen und Bourla per Chats und Anrufen einfädelten. Termine, Protokolle der Verhandlungen und anderen wesentliche Informationen will die Kommission nicht einmal dem Europäischen Rechnungshof vorlegen.
Laut geleakten Informationen zahlt die EU für den Nachschlagskauf deutlich mehr als für die ersten Impfstofflieferungen. Pfizer-BioNTech erhöht den Preis pro Dosis von 15,50 auf 19,50 Euro, berichtet die Financial Times. Inzwischen sind hunderte Millionen Dosen geliefert worden – der Deal bringt dem Pharmakonsortium wohl einen Milliardengewinn. Warum der Preis nach der ersten Lieferung anstieg, kann niemand so recht erklären.
Die Kommission hat außerdem viel zu viele Dosen bestellt – im Januar 2023 wird bekannt, dass die Europäische Union 500 Millionen Dosen weniger geliefert haben möchte als die 1,8 Milliarden, die Von der Leyen im Mai 2021 geordert hat. Die Nachfrage sei nicht so groß wie erwartet. Hat Von der Leyen zu einer Zeit, als noch große Impfstoffknappheit herrschte, einen Panikkauf getätigt, für den Europa nun draufzahlt?
EU-Kommission: SMS sind keine Dokumente
Einige Wochen, nachdem ich die Nachrichten zwischen Ursula von der Leyen und dem Konzernchef von Pfizer angefragt habe, flattert Post ins Haus. Die Kommission antwortet auf meine Anfrage, sie habe ihre Archive durchkämmt. Aber: Es gebe „keine Dokumente, die zu der in ihrem Antrag gegebenen Beschreibung passen“.
Ich brüte über dem Schreiben. Darin heißt es, die EU-Kommission sei „nicht verpflichtet, jedes einzelne Dokument aufzubewahren.“ Eine SMS oder eine Nachricht über einen Messengerdienst sei „von ihrer Natur aus ein kurzlebiges Dokument, dass grundsätzlich keine wichtigen Informationen über Politik, Tätigkeiten und Entscheidungen der Kommission enthält“. Nach internen Richtlinien der Kommission würden solche Nachrichten daher grundsätzlich nicht archiviert.
Die Chats der Kommissionspräsidentin sind also unwichtig? Immerhin geht es um die Anbahnung des bedeutendsten Kaufvertrags, den die EU jemals abgeschlossen hat. Werden die Nachrichten einfach gelöscht?
Auf dem eigenen Handy Spuren zu verwischen, das wäre für Von der Leyen nichts Neues. Als sie deutsche Verteidigungsministerin ist, rüstet die Bundeswehr gewaltig auf. Milliarden fließen für neue Waffen, Fahrzeuge, Munition. Auch für Beratungsverträge gibt es viel Geld. Zu viel, sagt später der deutsche Bundesrechnungshof.
Der Bundestag setzt im Januar 2019 einen Untersuchungsausschuss ein. Von der Leyen wird vorgeworfen, millionenschwere Aufträge ohne Ausschreibung direkt an Beratungsfirmen vergeben zu haben.
Der Ausschuss fordert das Diensthandy Von der Leyens als Beweismittel. Gut einen Monat später holt ein Fahrer das Handy im Privathaus der Ministerin ab. In der Kommunikationsstelle des Ministeriums nehmen IT-Fachkräfte eine „Sicherheitslöschung“ vor. Alle Nachrichten Von der Leyens sind weg – für immer. Vor dem Ausschuss sagt Von der Leyen, sie könne sich an das Handy „nicht mehr erinnern“.
Ombudsfrau: SMS sind Dokumente
Probiert Von der Leyen nochmal denselben Trick? Einfach löschen? Ich beschließe, wegen der Pfizer-Chats eine Beschwerde bei der Europäischen Ombudsfrau Emily O’Reilly einzubringen. Diese kann die Kommission nicht zwingen, Dokumente vorzulegen. Aber O’Reilly kann den Fall untersuchen und öffentliche Empfehlungen vorlegen.
War es rechtens, dass die Kommission pauschal behauptet, sie habe keine Chats Von der Leyens archiviert? Nein, sagt Emily O’Reilly. Es handle sich um ein „Fehlverhalten“ der Kommission. Denn die Behörde habe gar nicht erst versucht, die Nachrichten vom Handy der Kommissionspräsidentin zu holen. Diese müsse künftig eine Lösung schaffen, um Handy-Chats routinemäßig speichern und archivieren zu können.
Ob die Nachrichten noch existieren, erfährt auch O’Reilly nicht. Die Kommission mauert. Sie will keine Chats aufbewahren. Doch der Druck wächst. Hunderte Medien in ganz Europa berichten über den Fall, vom Guardian über Le Monde bis zum Spiegel. Fehlende öffentliche Kontrolle, und das bei einem milliardenschweren staatlichen Beschaffungsvorgang – das sorgt selbst im skandalerfahrenen Brüssel für Empörung. Das EU-Parlament lädt Von der Leyen ein, sich zu erklären.
Ich schreibe ein E-Mail an Matina Stevis-Gridneff. Die Bürochefin der New York Times in Brüssel hat den Artikel geschrieben, durch den die Chats öffentlich bekannt werden. Ohne Matina hätte die Welt nie davon erfahren. Ich berichte ihr von der Entscheidung der Ombudsfrau.
„[Ich] kann nicht glauben, dass die damit rechtlich durchkommen“, sagt Matina Stevis-Gridneff.
Matina antwortet binnen weniger Minuten: „[Ich] kann nicht glauben, dass die damit rechtlich durchkommen“. Wir sprechen über mögliche nächste Schritte. Das Urteil der Ombudsfrau hat ein Schlaglicht auf den Fall geworfen. Viele Medien berichten. Doch O’Reillys Entscheidung ist rechtlich nicht bindend, die Kommission kann genauso weitermachen wie bisher. Das genügt uns nicht.
New York Times: Wir fragen das Gericht, ob SMS Dokumente sind
Die New York Times schaltet Anwält*innen ein, die ich mir nicht leisten könnte. Ich helfe mit Recherchen zur Vorbereitung der Klage. Am 25. Januar 2023 bringen die Anwält*innen eine Klageschrift beim EU-Gericht ein. Sie verlangt mit Nachdruck die Herausgabe jener Nachrichten, die mir verweigert worden sind. Aus dem Schneeball, meiner kleinen Anfrage vor einigen Monaten, wird eine Lawine.
Auf dem Spiel stehen mehr als nur Chats. Eine Ausnahme für „kurzlebige“ Nachrichten würde nicht nur Nachrichten über SMS und WhatsApp treffen, sondern auch interne Kommunikation über Coworking-Software wie Slack oder Teams. Im Rat der Europäischen Union funktionieren ganze Arbeitsgruppen über Chats. Bleiben diese pauschal geheim, schwächt das die Transparenz und schafft Anreize, immer mehr Kommunikation in den Graubereich zu verlegen. Die Transparenzgesetze der EU würden letztlich ausgehöhlt.
Nur eine erfolgreiche Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union kann das ändern. Das Gericht kann die Kommission zwingen, die Chats herauszugeben. Mehr noch, es kann einen Präzedenzfall schaffen. Die Frage lautet: Darf eine EU-Institution eigenhändig entscheiden, was ein Dokument ist? Und ist die Transparenzverordnung wirklich auf die Dokumente beschränkt, die die Bürokratie freiwillig zu den Akten legt?
Die Kommission ändert inzwischen ihre Erzählung und behauptet, Von der Leyen habe beim Impfstoffkauf gar keine Rolle gespielt. „Die Kommissionspräsidentin war an den Verhandlungen über den Covid-Impfstoffvertrag nicht beteiligt“, sagt Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nun im EU-Parlament. War die Heldengeschichte über den Impfstoffdeal am Ende nur Flunkerei?
In einem Interview mit einer italienischen Zeitung werde ich gefragt, was sich wohl für ein Skandal in den Chats versteckt. Keiner, sage ich. Vermutlich sei der Inhalt der Nachrichten banal, bestenfalls verraten sie uns ein paar Details. Doch es geht eben nicht nur um die Nachrichten. Zur Verhandlung steht letztlich eine Frage des Herrschaftsstils: Ist Regierungshandeln am Handy über Kontrolle erhaben?
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