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Emil Biller
Reporter

Wann endet endlich die Gewalt?

Es ist Freitagmorgen und du liest das tag eins briefing. Jede Woche bieten wir dir hier Perspektiven, Einschätzungen und Analysen zu Politik & Medien – so wie in einer guten Diskussion unter Freund*innen.

Ein schneller Überblick ...

Diese Woche haben wir für dich:
❏ Eine Analyse über Online-Gewalt gegen Frauen
❏ Den tag-eins-Text der Woche über das oft übersehene Thema Gewalt gegen Frauen mit Behinderung – Stichwort: Zwangssterilisation
❏ Ein Status-Update zum Bundestrojaner, einer staatlichen Überwachungssoftware, die möglicherweise bald doch kommen könnte

Content Note: In diesem Newsletter werden verschiedene Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt bzw. Gewalt an Frauen thematisiert.

Du hast es sicher mitbekommen. Am Montag war der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Mit der 16-tägigen Kampagne „Orange the World“ machen die Vereinten Nationen seit 1991 auf geschlechterspezifische Gewalt aufmerksam. In der Redaktion war schnell klar, dass auch wir das thematisieren müssen.

Gleichzeitig habe ich immer wieder mitbekommen, dass sich bei vielen Frauen und FLINTA*-Personen in meinem Umfeld bei diesem Thema ein gewisser Frust eingestellt hat. Es sei natürlich gut, dass das Thema so viel und immer mehr Aufmerksamkeit bekomme. Es ist auch wichtig, dass in allen Medien und auf Social Media laut getrommelt wird, dass jede dritte Frau zwischen 18 und 74 Jahren in Österreich von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist. (Zähl mal durch und denk an mögliche Betroffene in deiner Familie oder deinem Bekanntenkreis.)

Aber am Problem ändern tut sich trotz allem nichts. Da macht auch so eine Botschaft auf den Anzeigetafeln der Wiener Linien keinen großen Unterschied.

Am Montag war auf allen Anzeigetafeln der Wiener Linien zu lesen: Kein Platz für Gewalt. Foto: Markus Sulzbacher

Wer schützt Frauen und Mädchen strukturell? Wer leistet so wichtige Täterarbeit? Die Politik, die Polizei und die Behörden definitiv nicht ausreichend. Wir zählen im Jahr 2024 bisher 27 Femizide in Österreich. 27 Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts gestorben sind. 27 Frauen, die von Männern (aus ihrem Umfeld) getötet worden sind. Die Gewalt beginnt aber schon viel früher, beim sexistischen Kommentar vom Kollegen auf der Arbeit, beim Catcalling auf der Straße, beim Übergriff in den Öffis, wie dieser Beitrag der Chefredaktion thematisiert.

Ja, auch in deinem Umfeld sind Täter, ob du das wahrhaben willst oder nicht. Solange nicht endlich mehr cis Männer ihre Privilegien und Ressourcen einsetzen werden, um strukturelle politische Veränderungen einzufordern, FLINTA*-Personen in ihrem direkten Umfeld zu schützen und sich gegen die Gewalt an ihren Freundinnen, Kolleginnen und Familienmitgliedern auszusprechen, wird sich gesellschaftlich nichts ändern. So traurig das ist. So wütend das macht.

Über zwei spezifische Formen von Gewalt gegen Frauen geht es auch im restlichen Briefing. Jolanda Allram beschreibt, warum gerade Frauen so massiv von Hass im Netz betroffen sind. Eva Rottensteiner klärt im tag-eins-Text diese Woche über die oft übersehene Gewalt an Frauen mit Behinderungen auf. Und Markus Sulzbacher widmet sich in einer kurzen Analyse dem Bundestrojaner als Bestandteil der aktuellen Koalitionsverhandlungen.

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Online-Gewalt gegen Frauen beginnt mit Abwertung

von Jolanda Allram 📧

Vergangene Woche traf die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock eine Welle von Hasskommentaren in den sozialen Medien, nachdem sie die Trennung von ihrem Mann öffentlich bekannt gegeben hatte. Die deutsche Journalistin Düzen Tekkal äußerte sich dazu auf Instagram: „Der Spott, die Verachtung und die Häme, die sich seit der gestrigen Verkündung der Trennung zwischen unserer Außenministerin Annalena Baerbock und ihrem Mann unter dem Hashtag #Baerbock Bahn brechen, sind so ekelhaft, dass ich nichts davon reproduzieren werde.“

Die Kommentare sind nicht nur beleidigend, sondern zutiefst frauenfeindlich. Viele Nutzer*innen werfen Baerbock vor, sich zu wenig um ihre Familie gekümmert zu haben – Unterstellungen, die Männer in ähnlichen Positionen nur selten treffen. Diese persönlichen Angriffe sind eine Form von Online-Gewalt. Julia Schaffner, Geschäftsführerin der Beratungsstelle Frauen* beraten Frauen*, sagt: „Online-Gewalt beginnt dort, wo Aussagen abwertend sind oder eine Einmischung in das persönliche Leben darstellen.“

Gesetze, die schützen wollen

Online-Hass richtet sich häufig gegen Frauen. Besonders gefährdet sind Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen. 2021 befragte etwa das Momentum Institut in Zusammenarbeit mit der Journalistin Ingrid Brodnig heimische Nationalratsabgeordnete zu ihren Erfahrungen mit Hassnachrichten: 73 Prozent der Befragten hätten schon sexualisierte oder frauenfeindliche Nachrichten über das Internet erhalten. Gewalt gegen Frauen im Netz macht aber auch vor Privatpersonen nicht halt. In einer 2018 erschienen Studie des Forschungszentrums für Menschenrechte gibt jede dritte Befragte an, mindesten einmal in den letzten zwölf Monaten eine Online-Gewalterfahrung erlebt zu haben.

Das Thema ist in den letzten Jahren mehr ins Bewusstsein der Politik gekommen. So soll das 2021 in Kraft getretene „Hass-im-Netz-Bekämpfungsgesetz“ einen effektiveren Schutz vor Hass-Postings im Internet bieten. Doch die Rechtsmittel des Gesetzes werden weniger genutzt, als erwartet.

Es braucht Bewusstseinsbildung

Schaffner sagt: „Viele Betroffene wissen nicht, dass sie rechtliche Schritte einleiten können.“ Es fehle das Bewusstsein, dass eine Handlung rechtswidrig sei – bei übergriffigen Personen wie bei Frauen: „Frauen kommen mit einem ungewohnten Gefühl in die Beratung und wissen oft gar nicht, dass das, was sie erleben, strafbar ist.“ Um hier mehr Bewusstsein zu schaffen, hat die Organisation das Handbuch „Ist das schon Gewalt“ herausgegeben.

Betroffenen Frauen rät Schaffner, zunächst emotionalen Abstand zu gewinnen. Ein dauerhafter Rückzug aus dem Internet sei aber kontraproduktiv: „Weil dann die aggressive Minderheit den Raum einnimmt und das Internet für sich okkupiert.“ Algorithmen verstärken diesen Eindruck.

Gemeinnützige Organisationen als Kontrollinstanz?

Schaffner sieht hier die großen Plattformen wie Meta (Instagram, Facebook), Google (Youtube), Tiktok oder X in der Verantwortung. Mit der EU-Verordnung Digital Services Act (DSA) und dem dazugehörigen heimischen DSA-Begleitgesetz wurden Anfang des Jahres strengere Regeln eingeführt, um illegale Inhalte auf diesen Plattformen einzudämmen. Unter anderem sieht der DSA vor, dass gemeinnützige Organisationen (NGOs) die Plattformen überwachen und illegale Inhalte melden. Schaffner sieht das kritisch: „Da wird die Verantwortung der Überwachung auf NGOs abgeschoben, die ohnehin mit ihren Ressourcen zu kämpfen haben, sowohl finanziell als auch zeitlich. Aber Geld dafür wird uns nicht zur Verfügung gestellt.“

Die Effekte der neuen EU-weiten Verordnung sind abzuwarten. Was es auf jeden Fall brauche, sagt Schaffner, sei mehr Problembewusstsein und Aufklärungsarbeit, sowohl bei Betroffenen als auch bei übergriffigen Personen. Das müsse schon in der Schule beginnen, schon Volksschüler*innen hätten mit Handys Zugang zu einer Fülle an ungeeigneten Informationen. Angesetzt werden muss aber vor allem bei jenen, die Hasskommentare oder ähnliches posten, sagt Schaffner: „Wir sollten nicht immer von Frauen verlangen, dass sie sich selbst schützen oder verteidigen, sondern von übergriffigen Menschen, dass die sich gefälligst zusammenreißen.“

Weiterführende Informationen zum Thema:

Bei unerwünschten Inhalten im Internet ist es oft möglich ein Löschen zu beantragen – hier erfährst du wie.

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Zwangssterilisation bei Frauen mit Behinderung

von Eva Rottensteiner 📧

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Frauen mit Behinderung einer Sterilisation unterziehen, ist in Deutschland achtmal (!) höher als bei Frauen ohne Behinderung. In Österreich zeigte eine Studie zum Thema Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2019: Nur 5 von 28 befragten Personen, die eine Sterilisation durchführen ließen, wollten den Eingriff wirklich. Zwei sprachen von Zwang. 

Das Thema Zwangssterilisation bei Frauen mit Behinderung ist in der Öffentlichkeit kaum präsent. Zu tabuisiert ist die Überschneidung von Sexualität, Selbstbestimmung und Behinderung. Dabei gehen Expert*innen von einer hohen Dunkelziffer aus. Dadurch zeigt sich, wie wenig Frauen mit Behinderungen strukturell vor Gewalt geschützt werden. Auch Angebote für gewaltbetroffene Frauen ohne Behinderung erreichen Frauen mit Behinderung oft nicht.

Die freie Journalistin Eva Rottensteiner hat für tag eins mit vielen Expert*innen gesprochen: Es geht darum, wie Frauen mit Behinderung sowohl sexistisch als auch ableistisch diskriminiert werden, über Kontinuitäten des NS-Regimes, die bis heute Behindertenrechte beeinflussen, über Verwandte, die es nur gut meinen und auch darüber, was Medien tun können, um besser über Behinderung zu berichten. 

Den vollständigen Artikel kannst du hier lesen:

Zweifach unsichtbar: Zwangssterilisation bei Frauen mit Behinderungen
Die derzeitigen Gewaltschutz-Pakete schützen Frauen mit Behinderung zu wenig. Ihre Belange kommen kaum vor. Sichtbar wird das beim Thema Zwangssterilisation.

(Diesen Text gibt es exklusiv für tag-eins-Mitglieder.)

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Kommt nun der Bundestrojaner?

von Markus Sulzbacher 📧

Eine staatliche Überwachungssoftware, auch Bundestrojaner genannt, ist Teil der Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS. Die Parteien haben ihre Positionen seit der Wahl aber nicht wirklich geändert. „Aus unserer Sicht braucht es eine verfassungskonforme Überwachung von Messengerdiensten bei Terrorverdacht“, heißt es etwa seitens der ÖVP auf tag-eins-Anfrage. Deswegen wurde auch bereits vor Monaten ein Gesetzesentwurf in Begutachtung geschickt. Die SPÖ betont: „Jede Lösung muss verfassungskonform sein.“ Und für die NEOS gilt, dass „Privatsphäre und die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes nicht leichtfertig am Altar vermeintlicher Sicherheit geopfert werden dürfen“.

Vorgaben machen den Einsatz nahezu unmöglich

Die NEOS verweisen in ihrer Stellungnahme auch darauf, dass der Verfassungsgerichtshof (VfGH ) „bereits im Jahr 2019 den Bundestrojaner als verfassungswidrig erkannt“ hat. Der VfGH hat mit seinem Urteil die Hürden für den Einsatz von Bundestrojanern extrem hoch gelegt, da dieser „einen schwerwiegenden Eingriff des Grundrechts auf Privatsphäre“ darstelle. Deswegen verlangt der VfGH einen strengen Rechtsschutz und Kontrollen sowie klare Regeln, wann und wie die Software eingesetzt wird. Expert*innen halten es für nahezu unmöglich, diese Vorgaben zu erfüllen. Die Datenschutz-NGO epicenter.works kritisiert auch den von der ÖVP eingebrachten aktuellen Gesetzesentwurf für den Bundestrojaner als „vermutlich wieder verfassungswidrig“.

Während ihrer Regierungszeit beschäftigten sich die Grünen, die sonst immer vehement gegen staatliche Überwachung auftraten, kaum mit dem Thema. Sie betonten lediglich, dass eine Überwachungssoftware „verfassungskonform“ sein müsse. Aus ihrer Sicht war das Thema damit vom Tisch. Der Zusatz „verfassungskonform“ könnte auch ein Weg sein, wie das Thema bei den jetzigen Koalitionsverhandlungen abgehandelt wird.

Sorge vor Missbrauch

Dazu kommen Bedenken, die von allen Parteien geäußert werden. Es gibt etwa die Sorge, Regierungsparteien könnten Bundestrojaner für eigene Interessen missbrauchen. Diese Sorge ist ein Hauptgrund für die Ablehnung der Software. So erklärte etwa die FPÖ tag eins, dass sie gegen den Einsatz von Bundestrojanern ist. Die vergangenen Jahre haben auch gezeigt, dass Bundestrojaner eine gefährliche Waffe sein können, die schon in EU-Mitgliedsstaaten gegen Journalist*innen und Oppositionelle eingesetzt wurde, etwa in Ungarn.

Bekannt wurde dies, als vor wenigen Jahren eines der raffiniertesten Überwachungssysteme der Welt aufflog: Es trägt den Namen Pegasus und ist eine Software des israelischen Unternehmens NSO Group. Sie kann unbemerkt auf einem Smartphone installiert werden, alle gespeicherten Daten, einschließlich Fotos und Adressbuch, auslesen, das Mikrofon als Wanze nutzen, die Kamera zur Überwachung aktivieren und den Standort präzise verfolgen – alles aus der Ferne und ohne Wissen des Nutzers. Kurz: Pegasus beendet die Privatsphäre.

Mehr Informationen zum Thema Bundestrojaner findest du hier:

Warum wir wieder über den Bundestrojaner diskutieren (müssen)
Ein vereitelter Anschlag auf die Pride führt dazu, dass die Polizei die Diskussion um den Bundestrojaner neu aufwärmt. Dabei hat der Verfassungsgerichtshof schon 2019 entschieden: Nein. Denn der Bundestrojaner kommt mit vielen Nachteilen im Gepäck.

Dass das österreichische Frauenministerium nicht unbedingt als Speerspitze im Kampf gegen sexistische Strukturen gilt, ist für aufmerksame Beobachter*innen kein Geheimnis. Dass allerdings so wichtige feministische Medien wie die an.schläge seit Jahren nicht mehr vom Ministerium finanziell unterstützt werden, ist doch berichtenswert.

Deshalb braucht es umso dringender tatkräftige Unterstützung von der Community. Unterstütze jetzt und hier die an.schläge mit einem Abo.

Und hier geht es noch zur Webseite der Frauenhelpline gegen Gewalt – 0800/222 555 (kostenlos und anonym 24/7 erreichbar).

Screenshot: frauenhelpline.at

Rechts oben findet sich ein Button mit der Aufschrift „schnell die Webseite verlassen“. Ein Klick darauf und man kommt direkt auf die Seite ichkoche.at/rezepte. Nur falls du dir immer noch nicht vorstellen kannst, was notwendig ist, um von Gewalt betroffene Frauen zu schützen.

Trotz allem ein schönes Wochenende wünscht

Emil von tag eins

PS: Wenn du noch mehr tag-eins-Content magst, empfehle ich dir die aktuelle Podcast-Folge des Design Thinking Podcasts von Ingrid und Peter Gerstbach. Unsere Redaktionsleiterin Anna und meine Wenigkeit erzählen darin, wie uns Design Thinking bei unserem Veränderungs-Prozess geholfen hat und was wir dabei gelernt haben. Hier kannst du den Podcast anhören!

Anna und Emil mit den Design-Thinking-Hosts Ingrid und Peter Gerstbach bei der Podcast-Aufnahme. Foto: Peter Gerstbach
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Autor*in: Emil Biller

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