Zu viele Gefühle, zu wenig Wissen
Antisemitismus zeigt sich gerade wieder deutlich in allen gesellschaftlichen Schichten. Dem ist nur etwas entgegenzusetzen, wenn wir Kinder bereits ab der Volksschule sensibel aufklären und sie langfristig begleiten.
Vorneweg, in den folgenden Zeilen wirst du keine Einordnung zum Nahostkonflikt finden. Ich bin keine Expertin. Doch anlässlich des Terrors in Israel und der Bomben in Gaza ist die Stimmung in Österreich aktuell sehr angespannt. Deshalb soll es hier darum gehen, was wir nun aus den Gefühlen und Meinungen der Menschen dazu schließen könnten.
Damit meine ich nicht die Gefühle und Meinungen derjeniger, die direkt von den aktuellen Ereignissen oder von Antisemitismus betroffen sind. Ich finde, diese Gefühle hat man auszuhalten. Denn wer, der*die nicht betroffen ist, kann sich schon vorstellen, was Menschen mit Angehörigen in Israel oder Gaza gerade durchmachen? Da sind Leute, die nicht wissen, ob die Menschen, die sie lieben, noch am Leben sind oder wie lange noch. Ich weiß nicht, ob es auf dieser Welt einen grausameren Zustand als diesen gibt.
In diesen Zustand hinein werden nun wieder (es ist ja nicht so, als hätte das jemals aufgehört) Menschen auf der Straße bedroht, weil sie als Juden oder Jüdinnen erkannt werden. Was mir Sorgen macht ist die starke Emotionalisierung bis Radikalisierung einer Masse, die zum einen nicht direkt betroffen ist und sich zum anderen nicht tiefgehend mit der Materie beschäftigt zu haben scheint. Leute, die übernehmen, was ihre Freund*innen, Eltern oder Fremde im Internet sagen. Leute, die mit den Schultern zucken, wenn Menschen gehasst, bedroht und getötet werden. ___STEADY_PAYWALL___
Der Nahostkonflikt ist älter als ich und in seiner Komplexität so enorm, dass ich persönlich noch nie das Gefühl hatte, ihn ganz verstanden, alle Ebenen, historischen Gegebenheiten und Einflussnahmen darauf, durchdrungen zu haben. Dabei ist mein Medienkonsum als Journalistin sehr viel höher als jener der Durchschnittsösterreicher*in. Deshalb erstaunt es mich – und es besorgt mich gleichermaßen –, dass es so viele gibt, die denken, sie hätten diesen Konflikt zur Gänze verstanden und die nun, wie bei einer Fussball-WM, längst eine Seite gewählt haben, die sie anfeuern. Was in einer Situation, in der wir nur wissen, dass auf jeden Fall noch viele Menschen sterben werden, vor allem ein Weg ist, seine schwindende Menschlichkeit zu offenbaren.
280 Zeichen reichen nicht
Was ich nun in sozialen Medien sehe, sind Leute, die ihre Informationen vermutlich gar nicht mehr aus klassischen Medienhäusern beziehen und auf die der Nahostkonflikt – erklärt in einem 30-Sekunden-Video oder auf 280 Zeichen – wirkt wie eine klare Nummer. Diese Leute wissen sofort, wer Opfer ist und wer Täter*in. Ob das nun Propaganda, Desinformation und Verschwörungsmythen sind, wird nicht reflektiert. Zu viele entscheiden gerade zu oft nach Gefühl, was sie glauben wollen. Doch eine Entscheidung nach Gefühl basiert vor allem auf den eigenen Erfahrungen und Einstellungen. In sozialen Medien wird dieses Gefühl außerdem vom Algorithmus bedient und verstärkt.
Deshalb stülpen nun viele Menschen ihre eigenen Kriegserfahrungen, ihre eigenen Rassismuserfahrungen, ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen, ihre Erfahrungen mit Muslim*innen, ihre Erfahrungen mit Geflüchteten, ihren latenten oder ganz offenen Antisemitismus oder einen Vergleich mit einem anderen Krieg oder Konflikt, der überhaupt nichts damit zu tun hat, über den Nahostkonflikt und bezeichnen das quasi als informierte Meinungsbildung. Das Problem ist, das hier offenbar eine zu große Lücke klafft, die nun mit Gefühlen, Halbwissen, Antisemitismus, aber auch mit antimuslimischem Rassismus gefüllt wird.
Der Antisemitismusbericht 2022, der im Auftrag der Bundesregierung erstellt wurde, hat sehr deutlich gezeigt, dass Österreich ein Antisemitismusproblem hat. Mehr als ein Drittel der Menschen in Österreich (n=2000, d.h. für die Studie wurden 2.000 Personen befragt) seien der Meinung, Jüd*innen versuchten heute Vorteile daraus zu ziehen, Opfer während der Nazi-Zeit gewesen zu sein. Das glaubten immerhin auch ein Viertel der unter 25-Jährigen (n=400 von den genannten 2.000). Noch stärker sei laut der Studie dieses antisemitische Vorurteil allerdings unter türkisch- und arabischsprachigen Teilnehmer*innen der Befragung. Für mehr als die Hälfte von ihnen treffe die besagte Aussage „voll und ganz“ oder „eher schon“ zu. In dieser Gruppe wurden, zusätzlich zu den 2000 genannten Befragten, 974 weitere Personen befragt, mit eigenem oder elterlichem Bezug zur Türkei (n=483) oder einem arabischsprachigen Land – hier Ägypten, Syrien und Irak (n= 491).
Unser Antisemitismus
Nichts davon ist zu rechtfertigen. Aus einigen Ecken wird aktuell bereits die Abschiebung von Geflüchteten gefordert, die sich antisemitisch äußern. Ich bin keine Juristin, aber ich stell mir das rechtlich eher schwierig vor. Doch selbst wenn das möglich wäre – was dann? Können Juden und Jüdinnen sich dann in Österreich sicher fühlen? Was machen wir mit den ganzen anderen Antisemit*innen? Mit den ganzen Rechtsextremen? Was machen wir mit den ganzen Österreicher*innen, die sich auf Corona-Demos „Judensterne“ angeheftet haben? Was machen wir mit Leuten, die immer noch meinen, die Ablehnung von antisemitischer Sprache wäre „woker“ Gesinnungsmist? Und mit jenen, für die „Nie wieder“ vor allem heißt, nur einmal im Jahr über die Schuld ihrer Vorfahren nachdenken zu müssen? Was machen wir mit jenen, für die Juden und Jüdinnen keine Individuen, sondern vor allem eine Projektionsfläche sind?
Die Frage, die wir uns als Gesellschaft in Österreich nun stellen müssen, ist nicht wie der Nahostkonflikt ausgehen wird – nicht weil es uns nicht interessiert, nicht weil wir nicht mitfühlen, sondern weil wir hinter dem Touchscreen unseres Handys kaum Einfluss darauf haben werden. Worauf wir aber einen Einfluss haben, ist ob jüdische Kinder in diesem Land in die Schule gehen können, ohne dass sie Angst haben müssen. Wir haben auch Einfluss darauf, ob Kinder und Jugendliche Antisemitismus erkennen und sich ihm entgegen stellen.
Wir entscheiden, ob sie heute das Werkzeug dafür bekommen, damit sie als Erwachsene nicht auf 30-sekündige antisemitische Propagandavideos auf einer von einem durchgeknallten Milliardär gekauften Onlineplattform hereinfallen. Ob sie wissen, wieso es antisemitisch ist gewisse Parolen auf Demos zu skandieren. Ob sie wissen, wie man faschistische Politiker*innen erkennt. Und ob sie die palästinensische von der sudanesischen Fahne unterscheiden können.
Es ist nie zu früh
Bevor ich mein Kindersachbuch über Antirassismus für Kinder ab 5 Jahren veröffentlicht habe, in dem es auf einer Seite auch um den Holocaust und Antisemitismus geht, haben viele Leute gesagt, es sei in diesem Alter zu früh für Kinder sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Doch ich glaube das nicht. Heute noch weniger als je zuvor. Es kommt auf den Zugang an und auf die kindgerechte Aufarbeitung. Natürlich sollten Volksschulkinder nicht nach Mauthausen fahren. Aber irgendeine Auseinandersetzung muss stattfinden, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass jüdische und muslimische Kinder gerade bereits Dinge hören und Erfahrungen machen, die sie alleine nicht einordnen können. Dass viele von ihnen sich selbst überlassen werden und dem ausgeliefert sind, was Mitschüler*innen von zuhause an Meinungen mitbringen.
„Nie wieder” heißt nicht nur, Kacheln ins Internet zu posten und staatstragende Floskeln zu rezitieren. Es heißt auch ein Bildungssystem zu schaffen, dass sich ab der Volksschule nicht nur klar gegen jeden Antisemitismus bekennt, sondern das Schulen auch ausstattet mit allem, was sie brauchen um irgendwann reflektierte und sensibilisierte Menschen in die Welt zu entlassen.
Dazu braucht es zumindest unabhängige Antidiskriminierungsstellen für Schüler*innen und Pädagog*innen, Fortbildungen für Pädagog*innen und diskriminierungssensible Lehrmaterialien. Es braucht aber auch zusätzliches geschultes Personal, das Kinder und Jugendliche über die aktuellen Wirkweisen und die Geschichte von Antisemitismus und Rassismus aufklärt, mit ihnen ihre Lebensrealitätem diskutiert und sie durch ihre gesamte Schulzeit begleitet. Denn die aktuellen Ergüsse in den sozialen Medien zeigen deutlich, dass der Geschichtsunterricht in der Unterstufe, das Sprechen mit Zeitzeug*innen und der Besuch einer Gedenkstätte nicht ausgereicht haben.