Die überpathologisierte Gesellschaft
Die Soziologin und Autorin Laura Wiesböck. Bild: Marija Šabanović
Emil Biller's Picture
Emil Biller
Reporter

Die überpathologisierte Gesellschaft

In ihrem Buch Digitale Diagnosen verhandelt die Soziologin Laura Wiesböck den legeren Umgang mit (Selbst-)Diagnosen und psychologischen Fachbegriffen heute.  

„How to spot ADHD in women in 25 seconds! They will overthink everything, that’s because the hyperactivity is in their head …“ – das erzählt der Social-Media-Unternehmer und ADHS-Betroffene Alex Partridge in einem für Instagram inzwischen typischen Mental-Health-Video. 

Scrollt man nur lange genug durch die Sozialen Medien, etwa auf TikTok oder Instagram, erkennt man bei anderen oder sich selbst die verschiedensten psychischen Erkrankungen oder Störungen. Nicht erst einmal habe ich so ein lustiges Symptom-Video an meine Freund*innen weitergeschickt, in dem ich mich selbst gesehen habe – wohl wissend (und klinisch bestätigt), dass diese Diagnosen auf mich eher nicht zutreffen. 

Diesen relevanten Unterschied zwischen medizinischen Fachdiagnosen und Selbstdiagnosen über Social Media bearbeitet die Soziologin Laura Wiesböck sehr eloquent und unter Verschränkung verschiedener gesellschaftlicher Aspekte in ihrem neuen Buch. Über allem steht das Argument, dass Begriffe und Konzepte rund um das Thema (psychische) Gesundheit ein Produkt gesellschaftlicher Aushandlung sind – man denke etwa an Freud und seine Hysterie oder die falsche Klassifizierung von Homosexualität als Krankheit.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der vielen Verhaltensweisen und Gedankengängen ein Krankheitswert zugesprochen wird, die für Wiesböck eher als „Variationen des menschlichen Zustands“ anerkannt werden sollten. 

Sad Girl Culture und White Girl Pain

Diese Entwicklung wird maßgeblich vorangetrieben durch die sozialen Netzwerke und deren kapitalistische Funktionslogik. Aus diesem Grund findet man dort auch überwiegend Inhalte zu psychischer Gesundheit, die sich ästhetisch darstellen und wirtschaftlich verwerten lassen – jeder Mensch, der schon mal länger auf Instagram unterwegs war, kann das bestätigen. ___STEADY_PAYWALL___ Beschreibungen von Angststörungen oder depressiven Zuständen sind angenehmer zu konsumieren als Störungen wie Narzissmus oder Schizophrenie und kommen dementsprechend häufiger vor, argumentiert Wiesböck. 

Die TikTok-Userin elis___stone erreicht mit einem kurzen Video, in dem sie sich zu einem traurigen Song schminkt und dabei weint über 62 Millionen Views und 8,2 Millionen Likes. Screenshot: TikTok

Laura Wiesböck, die momentan am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien zu Digitalisierung und sozialer Transformation forscht, hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass weiße junge Frauen auf Social Media hinsichtlich der Mental-Health-Thematik überrepräsentiert sind. Darin widerspiegeln sich patriarchale und rassistische Gesellschaftsstrukturen. Wiesböck schreibt von dem Phänomen der sogenannten „Sad Girl Culture“, das sich bei der Darstellung von depressiven Symptomen im Internet durchzieht: 

„Der dominierende visuelle Fokus für die Darstellung von Depression liegt [...] auf dem weißen privilegierten Frauenkörper. Diese depressive Karikatur zeigt sich durchgängig und trägt zu der destruktiven Vorstellung bei, dass man auf bestimmte Weise aussehen muss, um leiden zu dürfen. [...] Insofern wäre es treffender, die dominierende Ästhetik des Leidens auf Social Media als ,White Girl Pain’ zu bezeichnen, denn als ,Sad Girl Culture’.“

Auch für die Frage nach psychischen Erkrankungen bei Tätern sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen relevant. So werden im medialen Diskurs Gewalttaten insbesondere bei (jungen) Männern sehr häufig mit psychischen Erkrankungen begründet, sogar oft „entschuldigt“. Der Fokus auf den psychischen Zustand von Tätern lässt dabei den gesellschaftlichen Kontext und die patriarchale Sozialisierung außer Acht. Wiesböck schreibt in diesem Zusammenhang von der „macht- und überlegenheitsorientierten Haltung“ Frauen gegenüber und der „Ambition, Kontrolle an Partnerinnen auszuüben.“

Toxischer Umgang mit Fachbegriffen

Person XY ist „toxisch“, die Welt ist voller „Trigger“, alle haben ein „Trauma“ – ein ganz normaler Tag im Internet. Auch diese inflationäre Verwendung von klinischen Begriffen in einem nicht-klinischen Setting wird von Wiesböck fundiert kritisiert. Die Soziologin taucht dafür tief in die Psychologie ein. Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) basiere nun mal auf einem komplexen biologischen und neurologischen Vorgang, dem ein schweres Trauma vorangeht. Durch die Überrepräsentation dieser Begriffe im Alltagsdiskurs seien Abstufungen bei den einzelnen psychischen Erkrankungen nicht mehr so leicht möglich. 

Daraus ergibt sich das Risiko, tatsächliche Erkrankungen zu bagatellisieren und so Betroffenen zu schaden. Auch kann es vorkommen, dass Menschen aufgrund von Social Media fix mit einer Diagnose rechnen und sie dann offiziell nicht bekommen. Diese Situation kenne ich aus meinem Bekanntenkreis, für die betroffenen Personen war das sehr belastend. 

Angenehm ambivalent

Wiesböck schafft es, in ihren Analysen Ambivalenz zuzulassen. Sie setzt damit direkt dem von ihr kritisierten Konzept der Eindeutigkeit etwas entgegen: Gesellschaftlich betrachtet gebe es kaum Platz für widersprüchliche Antworten oder uneindeutige Gefühle. In ihrem Buch aber sehr wohl. So erwähnt Wiesböck immer wieder auch die Vorteile, die sich aus der aktuellen gesellschaftlichen Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ergeben. Zudem hebt sie an mehreren Stellen die Niederschwelligkeit digitaler Hilfsangebote positiv hervor. 

Digitale Diagnosen ist eine fachlich fundierte und sehr pointierte Einordnung einer aktuellen Entwicklung, die im digitalen Leben momentan sehr präsent ist. Laura Wiesböck liefert die Gesellschaftsdiagnosen und -begriffe dazu. Große Empfehlung. 

Laura Wiesböck: „Digitale Diagnosen – Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend“, Zsolnay, 176 S., 22 Euro.  Quelle: Zsolnay
An dieser Stelle erschien letzte Woche ein Erfahrungsbericht über die Vorteile von niederschwelliger Information über psychische Gesundheit auf Social Media.


Autor*in: Emil Biller

Diese Recherche wurde ermöglicht durch die Mitglieder von tag eins. Wenn du willst, dass mehr Mensch von tag eins erfahren, teile den Artikel und hilf uns mehr Menschen zu begeistern.

tag eins bist du.

Nur mit deiner Unterstützung, deinem regelmäßigen Mitgliedsbeitrag, können wir unabhängig recherchieren und sorgfältigen Journalismus machen.

Jetzt Mitglied werden

Das haben wir auch noch für dich: