Ohne Social Media hätte ich jetzt keine ADHS-Diagnose
Aber ich hätte immer noch ADHS und wahrscheinlich würde es mir schlechter gehen.
Die Autorin dieses Textes möchte anonym bleiben.
Auf Social Media-Plattformen wird das Thema ADHS in den letzten Jahren intensiv thematisiert. Der Spiegel spricht vom „Hype um Hyperaktivität“ – eine reißerische Überschrift, mit der ADHS als Modediagnose abgetan wird.
Durch witzige Reels auf Instagram wurde ich auf die neurologische Störung aufmerksam. Davor kannte ich nur das Klischee vom zappelnden Jungen. Dass es da draußen auch Menschen gibt, die ständig Schranktüren offen lassen oder die nasse Wäsche vergessen aufzuhängen, war überraschend. Mit fast allen dieser Videos konnte ich mich identifizieren. Mein Mann und ich schickten uns diese winzigen Ausschnitte aus dem Leben fremder Menschen hin und her. Er oft mit den Worten: „Das bist du!“
Die Videos machten etwas mit mir: Zum ersten Mal konnte ich über mich selbst lachen, statt mich ständig von meiner inneren Kritikerin klein machen zu lassen.
Menschen wie ich haben kein ADHS, dachte ich.
Zu viel Bedeutung schenkte ich dem Ganzen aber nicht. Ich war mir sicher, kein ADHS zu haben. ___STEADY_PAYWALL___ Ich war schließlich immer gut in der Schule, habe ein Studium ohne Unterbrechungen abgeschlossen und hatte viele Jahre einen gut bezahlten Job. Menschen wie ich haben kein ADHS, dachte ich.
Hyperfokus ADHS
Trotzdem spuckte der Algorithmus mir immer mehr ADHS-Content aus. Ja, es war viel Unsinn dabei, etwa „so halten Menschen mit ADHS einen Stift“ oder „so rechnen Menschen mit ADHS“. (Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es Studien darüber gibt, dass Menschen mit ADHS einen Stift verkrampft halten und komplizierte Rechenwege nutzen, aber ich bezweifle es.)
Screenshot: Instagram. „Executive Dysfunction bei ADHS heißt für mich, dass es enorm viel Kraft kostet, eine Sache zu beenden (vor allem Pausen) und eine Neue anzufangen. Ich weiß, dass ich aufstehen muss, es gelingt mir einfach nicht. Im Alltag führt das zu enormen Stress, der erst abends nachlässt“, sagt unsere Autorin. Von Reels wie diesem fühlt sie sich verstanden.
Gleichzeitig lernte ich dadurch viel über das Thema. Zum Beispiel, dass sich ADHS bei Frauen anders manifestiert als bei Männern und deswegen oft übersehen wird. Dass nicht jeder Mensch mit ADHS zappelig ist, sondern Hyperaktivität sich oft nur subtil zeigt, entweder durch eine innere Unruhe oder zum Beispiel durch ständiges Kratzen oder Lippenkauen.
Das Bewusstsein für ADHS, dass ich durch die Sozialen Medien erlangte, bewog mich schlussendlich dazu, mir Hilfe zu suchen.
ADHS war mein neuer Hyperfokus. Das heißt, wenn mich etwas interessiert, dann richtig. Ich las Bücher dazu, hörte Podcasts, schaute Erfahrungsberichte von Betroffenen auf Youtube. Das Gefühl, dass ADHS eine Erklärung für viele Belastungen in meinem Leben sein könnte, wurde immer stärker. Das Bewusstsein für ADHS, dass ich durch die Sozialen Medien erlangte, bewog mich schlussendlich dazu, mir Hilfe zu suchen.
Der lange Weg zur Diagnose
Dabei ist wichtig, klarzustellen: Es war kein einfacher Weg zur Diagnose. Schon die Erkenntnis, dass ich meine psychischen Probleme nicht allein bewältigen muss, war ein langer Prozess. Ich komme aus einer Generation, in der Psychotherapie als Tabuthema galt und psychische Erkrankungen und Störungen ein Stigma waren. Dass Menschen in sozialen Medien ihre Diagnose auf Hoodies und Kappen zur Schau stellen, mag für manche befremdlich wirken, mir hat es geholfen, meine Hemmungen zu überwinden.
Zugegeben, ich war in der privilegierten Position, eine private Therapeutin für die Diagnose suchen zu können. Die Vorstellung, auf einen Kassenplatz warten zu müssen, mir dann die Therapeut*in nicht aussuchen zu können und von der zugeteilten Person womöglich nicht ernst genommen zu werden, machte mir Angst. Leider wird ADHS auch unter Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen oft noch immer alsModediagnose abgetan.
Screenshot: Instagram. Die Autorin sagt dazu: „Entweder ich bin abgelenkt oder ich konzentriere mich voll und ganz auf eine Sache (vor allem vor einer Deadline), dann vergesse ich meine Grundbedürfnisse und bin extrem reizbar – vor meiner ADHS Diagnose war ich mir nicht bewusst, warum ich plötzlich so intensiv fühle.“
Ich hatte Glück und fand eine einfühlsame Spezialistin für die Diagnostik. Aber auch hier: Es war kein Spaziergang. Weil ADHS nur dann in Frage kommt, wenn die Symptome vor dem zwölften Lebensjahr bestanden haben, gab es auch einen emotionalen Deep Dive in meine Kindheit, mit Fokus auf oft schmerzhafte Erlebnisse und Gefühle. Kinder mit ADHS erfahren viel Ablehnung, vor allem aufgrund ihrer Impulsivität. Der US-amerikanische ADHS-Forscher Russell Barkley brachte es in einerRede auf den Punkt: Freund*innen verzeihen dir deine Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit und Unruhe – aber nicht deine Wut, die Gereiztheit und die impulsiven Emotionen, denn diese können verletzend sein und sind sozial nicht akzeptiert.
Während des ganzen Prozesses war ich hin- und hergerissen: Bin ich wirklich betroffen oder nur eine Hochstaplerin, die nach einer Ausrede für ihre Schwäche sucht?
Eine ADHS-Diagnostik geschieht nicht willkürlich. Es gibt standardisierte Methoden, die Fehldiagnosen so gut wie möglich vermeiden sollen. Ich traf mich mehrmals mit meiner Therapeutin und ging mit ihr gemeinsam mehrere Fragebögen durch. Während des ganzen Prozesses war ich hin- und hergerissen: Bin ich wirklich betroffen oder nur eine Hochstaplerin, die nach einer Ausrede für ihre Schwäche sucht? Dabei half mir das BuchDie Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S. Als ich nach mehreren Wochen mein Ergebnis in der Hand hielt, war das eine emotionale Achterbahn. Ich war auf der einen Seite erleichtert, weil ich endlich eine Erklärung (keine Entschuldigung!) für so vieles hatte, auf der anderen wütend, weil ich 36 Jahre alt werden musste, um die Ursache für so viele Herausforderungen in meinem Leben zu verstehen. Und auch verzweifelt, denn wer will schon ADHS haben, in einer Welt, die nicht dafür gemacht ist.
ADHS als Social Media-Trend
Es ist gut, dass ADHS immer weiter in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit gekommen ist. Aber das kann auch problematisch sein. Zum Beispiel, wenn Menschen daraus Profit schlagen wollen. So wie selbsternannte ADHS-Coaches auf Instagram, die keine fachliche Expertise haben und bei vulnerablen Betroffenen Schaden anrichten können. Oder, wenn Menschen, die eben kein ADHS haben, die ohnehin schon wenigen Diagnostik-Plätze in Anspruch nehmen. Die Antwort lautet da, wie so oft: Medienkompetenz. Nicht alles, was Laien auf Social Media sagen, muss zwangsläufig stimmen. Wer etwas sagt und mit welcher Intention, hilft uns, die Aussagen einzuordnen.
Was ich leider oft zu hören bekomme: „Heutzutage hat ja jeder irgendwie ADHS!“
Ich halte es für gefährlich, ADHS nicht ernst zu nehmen, weil es ein „Social Media-Trend“ ist. Dadurch werden Menschen, die darunter leiden, erneut stigmatisiert. Ich teile meine Diagnose zwar nicht mit Klarnamen im Internet, aber ich erzähle im echten Leben sehr gerne von ihr. Das ist für mich ein Akt der Rebellion: Ich wehre mich dagegen, ein Tabu zu sein. Wenn ich über mein ADHS spreche, dann erhoffe ich mir mehr Verständnis von meinem Gegenüber. Ich unterbreche Menschen eben oft oder reagiere impulsiv. Es kostet sehr viel Anstrengung, mein ADHS zu maskieren. Was ich leider oft zu hören bekomme: „Heutzutage hat ja jeder irgendwie ADHS!“ Das stimmt einfach nicht und verharmlost den Leidensdruck der Betroffenen. ADHS bedeutet eben nicht nur ein paar witzige Marotten zu haben, die sich gut auf Social Media vermarkten lassen. Es bestimmt mein Leben auf so vielen Ebenen, die schwer zu beschreiben sind. Manchmal können das witzige Insta-Reels aber ganz gut – zumindest teilweise.
Nächste Woche schreibt Emil Biller an dieser Stelle über die Gefahren von (voreiligen) Fremd- und Eigendiagnosen auf Social Media.
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