Am Gehsteig der Wolfsschanzengasse in Wien-Floridsdorf hat sich eine kleine Gruppe von Menschen zusammengefunden. „Die Hausnummer 10 hab ich nicht gefunden, aber ihr seht auch eher links aus“, ruft ein junger Mann schmunzelnd, während er sein Rad in ihre Richtung schiebt. Die Trainerin Liz empfängt ihn: „Hallo, willkommen! Die ausgeschickte Adresse gibt es offenbar nicht, die Orga-Leute haben den Treffpunkt diesmal echt nicht so gut ausgewählt, tut mir leid. Wenn das für euch okay ist, würden wir aber einfach auf den Parkplatz des Tennisvereins um die Ecke ausweichen.“ Schüchternes Nicken und Zustimmung vom Rest der Gruppe – sie sind einander offensichtlich wildfremde Leute mit einer gemeinsamen Mission.
Es ist ein schwüler Spätsommerabend auf dem Parkplatz eines Sportvereins im 21. Wiener Gemeindebezirk. Zwölf Personen – jüngere und ältere, mehr FLINTA* als cis Männer – sitzen auf Decken im Kreis zusammen und stellen sich vor. Wie unter linken Aktivist*innen üblich werden (Spitz-)Namen sowie Pronomen genannt und die Gründe, warum man heute bei dem Treffen dabei ist. „Ich habe das Gefühl, es gibt immer mehr Trennendes in unserer Gesellschaft und jetzt will ich endlich mal etwas Verbindendes unterstützen“, sagt eine etwas ältere Frau aus Niederösterreich. Sie fasst den Tenor unter vielen Teilnehmenden zusammen: „Ich denk mir, es gibt einfach keine Ausreden mehr, untätig zu sein.“ Ein junger Teilnehmer erklärt, nach dem AfD-Sieg in Thüringen sei es für ihn jetzt an der Zeit, aktiv zu werden und selbst etwas gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck zu machen.
Wie der Name schon verrät, geht es der parteiunabhängigen Initiative WIR* gegen rechts genau darum. Die vier Hauptinitiator*innen haben im April im Zuge einer gemeinsamen Fortbildung zum Thema Organisationsentwicklung den Entschluss gefasst, aktiv zu werden. Das erklärte Ziel: andere zu befähigen und zu motivieren, selbst aktiv zu werden. Den Initiator*innen scheint es wichtig, als Einzelpersonen eher im Hintergrund zu bleiben.
Eine davon, die 30-jährige Laura Grossmann, Aktivistin und Organisationsberaterin aus Wien, steht tag eins aber für ein Gespräch zur Verfügung: „Unsere Arbeit basiert eigentlich auf zwei Säulen, zum einen verbreiten wir Sticker und Plakate mit der Aufschrift „WIR* gegen rechts“ in verschiedenen Sprachen.“ Dabei handle es sich um ein Ermächtigungssymbol, man wolle zeigen, dass man die Straßen nicht den Rechten überlassen will. Die zweite Säule seien Haustürgespräche. „Unsere Analyse hat gezeigt, dass Demos und Aktionen oft nicht wirklich etwas bringen, um das Wahlverhalten von Unentschiedenen zu beeinflussen. Wir wollen nicht jene Leute erreichen, die sowieso schon auf unserer Seite sind, sondern wir wollen aus der Bubble raus.“
Für Sami geht es definitiv raus aus der Bubble. Die 25-jährige nicht-binäre Person nimmt an diesem Mittwoch schon zum zweiten Mal an einem Haustürgesprächstraining teil und möchte in diesem Text lieber anonymisiert vorkommen. „Mir ist es wichtig, aus meinem Umfeld rauszukommen und mit anderen Leuten ins Gespräch zu kommen“, erzählt Sami, während das erste Haus, ein etwas heruntergekommener Altbau, angesteuert wird. „Im Endeffekt sind wir einfach nur Personen, die sich Sorgen machen und darüber miteinander reden.“ Dabei helfe es, zu erwähnen, dass man parteiunabhängig sei, dadurch verändere sich der Zugang der Gesprächspartner*innen.
Samis Klopfen an den ersten beiden Wohnungstüren bleibt unbeantwortet. An der dritten Tür öffnet ein junger Mann, er habe aber keine Zeit für ein Gespräch, weil er gerade am Kochen sei. Am Gang im ersten Stock hat Sami dann Glück, zwei Personen zünden sich gerade am Fenster eine Zigarette an. „Hallo, wir sind aus der Nachbarschaft und reden mit Leuten über die Nationalratswahlen, weil wir uns Sorgen machen,“ sagt Sami etwas hastig. Das ist der Icebreaker, der den Teilnehmenden bei der Vorbereitung mit auf den Weg gegeben wird.
Die Trainings sind immer gleich aufgebaut. Ein bis zwei Trainer*innen erzählen kurz etwas über die Initiative und geben einen Überblick, wie die Gespräche ablaufen sollen. Dann teilen sie einen Gesprächsleitfaden und jede Menge Infomaterial an die Teilnehmenden aus, bevor jene sich die Häuser in der Umgebung aufteilen und gemeinsam eine Stunde lange „ausschwirren“. Vielen Teilnehmenden steht bei der Ankündigung, dass sie gleich an unzählige fremde Haustüren klopfen sollen, die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Das Treffen sei immerhin als Training angekündigt. Abschließend folgt noch eine gemeinsame Reflexionsrunde inklusive Datenerhebung.
Als Locations für die Trainings werden Wahlsprengel in Wien mit einem hohen Anteil an FPÖ-Wähler*innen und/oder vielen Wechselwähler*innen ausgewählt, darunter etwa Gegenden in Ottakring, in Simmering, nahe des Hauptbahnhofs oder eben auch hier in Floridsdorf.
Der rauchende Mann hat sich inzwischen in ein Gespräch mit Sami verwickeln lassen, nach ein paar Minuten reicht es ihm aber offensichtlich. „Ja, wir können uns eigentlich nicht beschweren, uns geht es eh gut. Nur das mit den Ausländern, das ist schon ein Problem“, antwortet er knapp auf die Frage, was ihn denn so beschäftige. „Aber lassen Sie uns jetzt bitte in Ruhe weiterrauchen.“ Sami bedankt sich höflich und zieht weiter.
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„Ich habe bisher eigentlich nur mittelgute bis gute Erfahrungen gemacht bei meinen Gesprächen“, sagt Sami. Inzwischen sei Sami auch nicht mehr so aufgeregt und klopfe alleine an Türen. „Was mich bisher am meisten erstaunt hat, ist, wie viele Personen mit Migrationshintergrund – teilweise auch ohne Wahlrecht –, die FPÖ unterstützen.“ In den Gesprächen komme dann auch oft heraus, dass sie sich bewusst seien, was ein FPÖ-Wahlsieg für sie bedeuten könnte. „Für sie ist offensichtlich wichtiger, dass die FPÖ bereit ist, für das Land zu kämpfen … was auch immer das heißt.“ Gemeinsam geht es weiter von Tür zu Tür, das laute Klopfen an den alten Holztüren eilt Sami ankündigend voraus.
In fast allen Gesprächen, die an diesem Mittwoch geführt werden, spielt Migration eine große Rolle. Darauf wurden die Teilnehmenden in dem Briefing auch vorbereitet: „Wenn das Thema Migration aufkommt, empfehlen wir euch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Die Erfahrung zeigt, dass es meistens nichts bringt, mit den Leuten darüber zu reden, sie haben da gefestigte Meinungen.“ Stattdessen könne es helfen, beim Thema Sicherheit konkret auf FLINTA* einzugehen, so würde die FPÖ etwa Mittel für den Gewaltschutz kürzen. „Meiner Erfahrung nach bewirken Argumente aber oftmals gar nicht so viel wie Emotionen“, berichtet eine junge Frau, die schon öfter als Haustürdiskutantin unterwegs war.
Liz betont auch nochmal das Ziel dieser Aktion: „Es geht bei diesen Gesprächen nicht darum, Hardcore-FPÖ-Wähler*innen dazu zu bringen, KPÖ zu wählen, das gelingt uns sowieso nicht. Vielen Leuten ist es einfach wichtig, dass man ihnen zuhört. Wir wollen ihnen etwas zum Denken mitgeben und sie in ihren Meinungen verunsichern.“ Studien zu Wahlentscheidungen würden zeigen, dass drei Wochen vor dem Wahltag noch zwischen fünf und 20 Prozent Unentschlossen seien, erklärt Liz.
Die Initiative WIR* gegen rechts orientiert sich grundlegend am Community-Organizing-Ansatz, einer Organisationsstrategie, die in den 1930er-Jahren in Chicago vom radikaldemokratischen Bürgerrechtler Saul David Alinsky entwickelt wurde. Dabei steht beziehungsorientiertes Vorgehen im Mittelpunkt. Durch den Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen sollen Einwohner*innen gemeinsam an Problemen und Missständen arbeiten, die in der Gegend vorherrschen.
Im Hinblick auf die bevorstehende Nationalratswahl in Österreich sei das konkrete Ziel von WIR* gegen rechts, das „Spektrum der Verbündeten“ zu verbreitern. Bei den Gesprächen gehe es darum, zu identifizieren, in welche Kategorie die Gesprächspartner*innen fallen und sie infolgedessen jeweils eine Kategorie weiter nach links zu bringen, erklären die Trainer*innen.
In der Praxis kommt es aber oft gar nicht zu einem Gespräch. Noa (ebenfalls anonymisiert), eine 25-jährige Studentin ist selbst Trainerin bei WIR* gegen rechts und stößt an diesem Mittwoch etwas später dazu. Inzwischen dämmert es schon in Floridsdorf. Noa macht sich auf den Weg zu einem Neubau und drückt am Klingelschild erstmal alle Knöpfe durch. Die Haustür öffnet sich und an der ersten Wohnungstüre wartet bereits eine ältere Frau: „Was wollen Sie denn?“. „Wir sind aus der Nachbarschaft und reden mit den Leuten über die Nationalratswahl …“. Noch bevor Noa den Satz beenden kann, unterbricht die Frau sie: „Tut mir leid, ich habe kein Interesse“ und schließt die Tür schnell wieder. Hinter der Wohnungstür gegenüber dreht sich hastig der Schlüssel um.
„Heute haben wir wohl nicht so ein Glück.“ Noa notiert sich die Haus- und Türnummern der besuchten Wohnungen. Für die Organisator*innen ist es wichtig, zu wissen, wo schon jemand war. An Wohnungen doppelt anzuklingeln, sei kontraproduktiv, man wolle die Leute nicht verärgern. „Jetzt haben wir nur noch eine Viertel Stunde, probieren wir es noch bei dem Haus da vorne.“
Gleich nach dem Läuten ertönt lautes Hundebellen. Kurze Zeit später öffnet eine ältere Frau – in Leggings mit rosa Lidschatten und schwarzgetuschten Wimpern – die Wohnungstür. Ein kläffender Chihuahua stellt sich uns in den Weg. Die Frau ist sichtlich bemüht, ihn in Schach zu halten, schließlich nimmt sie ihn auf den Arm. In gebrochenem Deutsch antwortet sie auf den Einleitungssatz: „Ja, das mit der Wahl ist für mich schwierig. Ich weiß noch nicht genau, ich werde es mir gut überlegen.“
„Und was beschäftigt Sie so im Alltag, worüber machen Sie sich Sorgen?“, fragt Noa. Die Frau scheint nicht abgeneigt, mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Ich bin schon in Pension, mir geht es soweit gut. Aber ich mache mir Sorgen um meine Kinder. Meine Tochter zum Beispiel. Ich habe Angst, dass ihr oder auch mir abends draußen etwas zustößt.“ Nach kurzer Zeit wird klar, worum es ihr geht. „Es kommen einfach zu viele Leute nach Österreich, die arbeiten nichts, haben zwei linke Hände und die neuesten Smartphones. Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet und die tun nichts.“ Auch die EU sei eine schlechte Institution, koste zu viel und bringe nichts Gutes. Die Frau wird emotionaler. Sie blicke mit Sorgen in die Zukunft. Und wiederholt in ihren Antworten viele klassische FPÖ-Stehsätze.
Noa versucht, wie angeleitet, verständnisvoll darauf einzugehen, aber auch das Gespräch thematisch umzulenken. Eher erfolglos – auch wenn die Frau aufmerksam zuhört. Nachdem ganze 15 Minuten intensiv und durchaus emotional Argumente ausgetauscht wurden, endet das Gespräch. „Dürfen wir Ihnen noch etwas zum Durchlesen da lassen?“ Die Frau nimmt den Zettel bereitwillig entgegen. Auf der einen Seite des A4-Ausdrucks finden sich jeweils drei Argumente gegen die FPÖ, gegen die ÖVP und gegen das Nicht-Wählen. Auf der anderen Seite gibt es jeweils drei Argumente für die KPÖ, die SPÖ und die Grünen. (Hier gibt es den Flyer zum Downloaden.)
„Die Hoffnung ist, dass wir damit zumindest zum Denken anregen und der Zettel, wenn er schon mal in der Wohnung herumliegt, vielleicht doch nochmal angeschaut wird“, erklärt Noa am Weg zurück zum Treffpunkt.
Zum Abschluss der Haustürgesprächstrainings füllen alle Teilnehmenden eine Onlineumfrage aus. Sie hilft bei der internen Evaluierung der Initiative. Bis zum 15. September wurden durch WIR* gegen rechts insgesamt 488 Haustüren geöffnet, 240 dieser Begegnungen führten zu längeren Gesprächen. Die überwiegende Mehrheit der besuchten Personen trat den Aktivist*innen „offen“ oder „sehr offen“ gegenüber. WIR* gegen rechts sei eine „klassische Wiener Initiative“, die meisten Beteiligten seien in Wien verankert, so Grossmann. Es gäbe jedoch auch den Versuch, in den Bundesländern Strukturen aufzubauen, vereinzelt wurden etwa Trainings in Graz und Linz abgehalten.
„Ich würde schon sagen, dass wir sehr erfolgreich sind. Wir machen das alles ehrenamtlich, haben wenige Ressourcen und dafür schon echt viel bewegt“, erklärt Grossmann. Die Finanzierung des Projekts läuft über ein Crowdfunding auf der Plattform GoFundMe. Die Frage nach direkten Verbindungen zu bestimmten politischen Parteien verneint die Initiatorin: „Ich würde auch nicht sagen, dass wir eine direkte Wahlempfehlung abgeben. Wir sagen dazu, dass die Teilnehmenden die Gespräche als Einzelpersonen durchführen. Für uns ist nur relevant, welche Parteien sich am klarsten für bzw. gegen rechts positionieren und da betrachten wir neben der FPÖ schon auch die ÖVP als gefährlich.“
Solche Haustürgespräche sind eine wichtige Säule der Community-Organizing-Strategie. WIR* gegen rechts hat sich vor dem Start intensiv mit der Kampagne des linken Senators Bernie Sanders bei den US-Präsidentschaftsvorwahlen 2016 beschäftigt.
„Vor allem der Gesprächsaufbau ähnelt jenem der Sanders-Kampagne“, erzählt Grossmann. Zentral sind dabei fünf Schritte: Nach dem Gesprächseinstieg geht es darum, durch Erkundungsfragen die Interessen des Gegenübers zu erfragen. Danach soll eine persönliche Verbindung hergestellt werden, etwa durch das Schildern eigener Erfahrungen, erst dann werden Argumente ausgetauscht und abschließend erfolgt eine Handlungsaufforderung. Im konkreten Fall sollen die Personen etwa die Wahlkabine ausprobieren, wenn sie noch unentschlossen sind oder aufgefordert werden, zur Wahl zu gehen, wenn sie nicht hingehen wollen. Für alle Nicht-Wahlberechtigten gibt es eine Einladung zur Pass-Egal-Wahl von SOS Mitmensch.
Der polit-strategische Ansatz, an Haustüren zu klopfen und in den direkten persönlichen Austausch mit der wählenden Bevölkerung zu gehen, erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Bei den Landtagswahlen in Sachsen etwa hat Die Linke laut eigenen Angaben an knapp 40.000 Haustüren geklopft, „um wieder Politik auf Augenhöhe zu machen“. Den Einzug in den Landtag Anfang September haben sie nur knapp geschafft.
Ob WIR* gegen rechts in den besuchten Wahlsprengeln tatsächlich etwas bewirken kann, wird erst die Wahl am 29. September zeigen. Die Aktivist*innen können sich jedenfalls nicht vorwerfen, untätig gegen den Rechtsruck geblieben zu sein.
Für die Teilnehmenden am Training in Floridsdorf war es auf alle Fälle eine besondere Erfahrung, wie die Reflexionsrunde zum Abschluss zeigt. Aber nicht alle können sich vorstellen, das auch in Zukunft zu machen. „Ich glaub, für mich sind diese Haustürgespräche nicht das Richtige, mein Frustrationslevel steigt einfach viel zu schnell“, teilt die extra aus Niederösterreich angereiste ältere Frau mit. Von der Methode habe sie sich aber schon etwas mitnehmen können und sie werde versuchen, im persönlichen Umfeld solche Gespräche zu führen. Für die 22-jährige Leonie hingegen war es eine coole Erfahrung: „Man fühlt sich zwar schon bisschen komisch, so Zeugen-Jehovas-mäßig, aber im Endeffekt habe ich dadurch einen Einblick in eine ganz andere Lebensrealität bekommen, den ich sonst nie bekommen hätte.“
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