Die fünf drängendsten medienpolitischen Themen
Die Regierungsverhandler*innen sprechen gerade auch über die Medienpolitik. Wo gibt es Gemeinsames und wo Trennendes?
Der Rückzug des oberösterreichischen Landesrats und SPÖ-Landesvorsitzenden Michael Lindner aus der Politik am 9.November sorgte vergangenes Wochenende für Aufsehen – nicht nur wegen der aktuellen, von Rücktritten geprägten Situation der SPÖ, sondern vor allem wegen seiner Begründung: „Mir ist wichtig, wenigstens die zweite Hälfte der Kindheit meiner beiden Söhne in einer aktiven Rolle mitzuerleben, die Chance habe ich nur einmal, und das ist mit meinen derzeitigen Aufgaben als Berufspolitiker schlicht nicht vereinbar“, erklärte er in einer Pressekonferenz sichtlich emotional.
Eine Aussage, die überrascht: Immer noch ist es eine Seltenheit, dass ein Vater seine Karriere hintenanstellt, um Sorgearbeit leisten zu können. So sind nur etwa mehr als 7 Prozent der Männer in Österreich mit Kindern unter 15 Jahren in Teilzeit berufstätig. Bei den Frauen sind es 74 Prozent. Lindner fällt damit außerdem öffentlich ein klares Urteil zur Vereinbarkeit von Politik und Familie.
Die Entscheidung, der Verantwortung seiner Vaterrolle gerecht zu werden, trifft Lindner zehn Jahre nach der Geburt seines ersten Kindes. Als Auslöser für sein spätes Umdenken nennt er den Roman „Die Wut, die bleibt“ der Salzburger Autorin Mareike Fallwickl, den er bei der Pressekonferenz auch in die Kameras hält.
In ihrem Buch thematisiert Fallwickl die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit und zeigt die Belastung, die diese für Frauen mit sich bringt. Sie hinterfragt das in der Gesellschaft tief verwurzelte Bild des Vaters als „Versorger der Familie“: Eine massiv überlastete Mutter begeht nach dem ersten Jahr der Covid-19-Pandemie Suizid. Was bleibt, ist ein Kümmer-Vakuum. Der Vater in „Die Wut, die bleibt“ ist distanziert und meist abwesend. Obwohl sich die Mutter auf radikale Weise entzieht, fühlt er sich nicht verantwortlich, flüchtet sich ins Büro oder auf Dienstreisen. Es sind Frauen, die sich wie selbstverständlich um die zurückbleibenden Kinder kümmern: eine Freundin der Familie, die Großmutter oder die 15-jährige Schwester.
Fallwickl selbst zeigt sich gegenüber tag eins von Lindners Umdenken wenig überrascht. ___STEADY_PAYWALL___ Er sei nicht der erste Mann, den die Botschaft des Buches bewegt habe. Seit dem Erscheinen des Romans im März 2022 bekäme sie immer wieder Nachrichten von Vätern, die sagen: „Ich bewerte die Familienarbeit jetzt anders. Und ich will daran teilhaben.“
Wird Lindner mit seinem medienwirksamen Rücktritt womöglich eine Welle der Verantwortungsübernahme von Vätern lostreten? Fallwickl weist darauf hin, dass er seine Entscheidung aus einer privilegierten Position heraus getroffen habe: „Sehr viele Väter können das nicht, da muss es aus wirtschaftlichen Gründen bei der ungleichen Verteilung der Care-Arbeit bleiben. Die Männer verdienen mehr, die Frauen sind zuhause.“
„Familiäre Gerechtigkeit muss man sich leisten können. Und das sollte nicht so sein“ Mareike Fallwickl, Schriftstellerin
Der Gender Pay Gap, also die Differenz zwischen den durchschnittlichen Bruttostundenverdiensten von Frauen und Männern, macht diesen Missstand deutlich: Frauen verdienen in Österreich pro Stunde durchschnittlich 18,4 Prozent weniger als Männer. Damit liegen wir im EU-Vergleich an zweithöchster Stelle. Nur in Estland ist der Gender Pay Gap noch größer. Der EU-Durchschnitt liegt bei 12,7 Prozent. „Familiäre Gerechtigkeit muss man sich leisten können. Und das sollte nicht so sein“, sagt Fallwickl.
Lindners Rücktritt zeige, dass stimme, was Mütter seit Jahrzehnten anprangern, meint Fallwickl: „Es gibt keine Vereinbarkeit von Beruf und Familie.“ Die Zahlen zeigen: Frauen stemmen immer noch den Großteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung. Auch dann, wenn in Familien Mütter mehr Erwerbsarbeit leisten als Väter. Mehr als 56 Prozent der Kinderbetreuung hängen dann weiter an Müttern. Ist das Erwerbsausmaß der Eltern gleich, übernehmen Mütter knapp 64 Prozent der Kinderbetreuung. Das zeigt die Zeitverwendungserhebung 2021/2022. Auch wenn Frauen durchschnittlich weniger Erwerbsarbeit leisten als Männer: Zusammen mit unbezahlter Arbeit kommen Frauen auf durchschnittlich 13 Minuten mehr Arbeit am Tag als Männer. Für Mütter heißt das oft: Erschöpfung als Normalzustand. Kann man so Politik machen?
Im österreichischen Parlament gibt es grundsätzlich keine Regelungen für Elternkarenz. Nationalratsabgeordnete oder Mitglieder des Bundesrats können aber aus medizinischen Gründen für längere Zeit abwesend sein – darunter fällt auch die Geburt und das darauffolgende Wochenbett. Auf Landesebene gibt es unterschiedliche Regelungen. In den Landtagen Tirol, Vorarlberg und Salzburg sind Karenzierungen bis zum 1. Geburtstag des Kindes ohne Bezüge möglich. Ähnliche Regelungen gibt es in der Steiermark, Kärnten und dem Burgenland.
Bei männlichen Abgeordneten, die während ihrer Amtszeit Elternzeit in Anspruch genommen haben, wurde ein größeres Interesse an sozialpolitischen Themen festgestellt.
Bedenkt man die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit, spiegelt sich die mangelnde Vereinbarkeit von politischen Ämtern mit Fürsorgepflichten auch im Frauenanteil des Nationalrats wider. Im neu gewählten Nationalrat sitzen knapp 64 Prozent Männer und nur 36 Prozent Frauen, 3 Prozentpunkte weniger als in der vergangenen Gesetzgebungsperiode. Eine wesentliche Steigerung des Frauenanteils ist seit 2002 nicht zu verzeichnen. Eine Schieflage, wenn man bedenkt, dass mehr als 50 Prozent der österreichischen Bevölkerung weiblich sind.
Eine mangelnde Vereinbarkeit von Politik und Familie hat nicht nur Auswirkungen auf individueller Ebene, sie kann auch politische Entwicklungen beeinflussen. Die Ergebnisse einer Studie der schwedischen Universität Göteborg aus dem Jahr 2018 deuten darauf hin, dass sich die Erfahrung mit Fürsorgepflichten auf die politischen Interessen von Abgeordneten auswirken kann. So wurde bei männlichen Abgeordneten, die während ihrer Amtszeit Elternzeit in Anspruch genommen haben, ein größeres Interesse an sozialpolitischen Themen festgestellt. Ob Politik oder Privatwirtschaft – in den strukturellen Bedingungen unserer Arbeitswelt sieht auch Fallwickl ein Problem:„Die Bedingungen sorgen dafür, dass gerade jene Menschen, die wir dringend in Entscheidungspositionen brauchen, dort nicht sein können, weil sie Care-Arbeit leisten müssen“, sagt die Autorin.
Dabei werden die Erfahrungen von Care-Arbeitenden für politische Entscheidungen immer wichtiger. Fürsorge wird als politisches Thema in Zukunft an Bedeutung gewinnen, sieht man sich die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung an. Österreich altert, immer weniger Kinder werden geboren. Das zeigt die Geburtenbilanz, die die Differenz aus Geburten und Sterbefällen misst. Zum Beispiel verstarben 2023 rund 12.000 Personen mehr, als zur Welt kamen. Statistik-Austria-Generaldirektor Tobias Thomas spricht in einer Presseaussendung vom „höchsten Geburtendefizit seit Ende des Zweiten Weltkriegs“.
Diese Entwicklungen werden die Politik vor neue Herausforderungen stellen. Stichwort Arbeitskräftemangel. Jener wird nicht nur den Bildungs-, Gesundheits- und Pflegesektor, sondern auch weite Teile der Wirtschaft treffen. Soziolog*innen sprechen von einer Care-Krise, die sich schon jetzt bemerkbar macht: in Kindergärten, Schulen oder bei der Pflege im Alter. Dass Österreichs Bevölkerung trotz allem wächst, liegt an der Zuwanderung.
Ein Blick nach Schweden zeigt, dass sich Arbeit in der Politik und Familie nicht ausschließen müssen. Im schwedischen Parlament haben Abgeordnete Anspruch auf bezahlte Elternzeit, die mittlerweile von Männern und Frauen relativ gleichmäßig genutzt wird. Während ihrer Amtszeit können sich Abgeordnete zudem vertreten lassen, was die Inanspruchnahme von Elternzeit zusätzlich erleichtert.
Ein Vorbild für Österreich? Ja, wenn es nach der Nationalratsabgeordneten und SPÖ-Frauensprecherin Eva-Maria Holzleitner geht. In ihrer Reaktion auf Lindners Rücktritt sagt sie: „Ziel muss sein, dass die Rahmenbedingungen so sind, dass Politik und Familie kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch sind.“
Lindners Entscheidung kann ein Vorstoß sein, Fallwickl spricht von einer Vorbildwirkung: „Weil er klarmacht, dass ein Mann in der patriarchalen Welt auf eine politische Karriere verzichten und sich seinen Kindern widmen kann, ohne an Ansehen oder Status zu verlieren. Und er sprengt dieses alte Rollenbild, vor allem für seine Söhne.“
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