Warum noch immer neue Öl-, Gas- und Kohleprojekte geplant werden
Investitionen in neue Öl-, Gas-, und Kohleprojekte sind global weiterhin auf dem Vormarsch. Lässt sich in diesen Entscheidungen auch nur ein Hauch von Vernunft erkennen?
Kanada im April 2022, Australien, die USA und Großbritannien im März 2023. All diese Länder haben trotz dringlicher Warnungen von Klimawissenschaftler*innen neue, CO2-intensive Kohle-, Öl- und Gasprojekte bewilligt. Die 116 neuen australischen Projekte werden etwa pro Jahr mehr Treibhausgas-Emissionen verursachen, als das ganze Land im Jahr 2021 verbuchte. Auch die britische Regierung hat in ihrer Energiestrategie “Powering Up Britain” gerade neue Investitionen in Öl- und Gasprojekte verabschiedet. Statt “powering up” (Englisch für “hochfahren”) erreichte sie damit einen kurzfristigen Zusammenbruch der Beziehung von Politik und Wissenschaft — 700 Klimaexpert*innen unterschrieben einen Protestbrief mit der Bitte an die Regierung, Großbritanniens ehemalige Vorreiterrolle in Sachen Klimapolitik nicht vollends in der Nordsee zu versenken.
In Europa und den USA rechtfertigt man sich mit dem Ukraine-Krieg und der Notwendigkeit, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Arbeitsplätze schaffen zu müssen. Nur: Die neuen Projekte werden Jahre brauchen, bis sie Rohstoffe liefern. Außerdem: Die erneuerbare Energieindustrie schafft pro investierter Geldmenge mehr Arbeitsplätze, als die fossile.
___STEADY_PAYWALL___Bereits 2019 waren laut internationaler Energieagentur die Hälfte der weltweit im Energiesektor beschäftigten Menschen in Versorgungsketten für CO2-arme Technologien tätig.
Wer verschmutzt, muss auch aufräumen
Lässt sich also in den CO2-verursachenden Entscheidungen westlicher Politiker*innen irgendeine Form von Vernunft erkennen? Gleich vorweg: Aus Sicht des Klimaschutzes auch nur annähernd vertretbar sind neue Investitionen in CO2-intensive Brennstoffe dann, wenn die Produzent*innen sich verpflichten, die entstehenden Emissionen auch wieder abzubauen.
Klappen könnte dies etwa mit “gekoppelten” Investitionen in CO2-Abscheidung und Speicherung. Mit anderen Worten: Keiner sollte mehr in CO2-emittierende Infrastruktur investieren dürfen, ohne gleichzeitig auch CO2-konsumierende Infrastruktur zu schaffen. Erweiterte Herstellerverantwortung (Englisch: extended producer responsibility, EPR) heißt dieses Modell, nach dem für jede Tonne CO2, die Öl - und Gasfirmen verantworten, per Gesetz auch die Abscheidung und die Speicherung von einer Tonne CO2 mitfinanziert werden müsste.
Das Grundprinzip ist einleuchtend: Wer verschmutzt, muss auch aufräumen. Etabliert ist dies in der EU etwa bereits für Abfälle der Elektronik-, Auto- und Chemieindustrie. Die Idee steht etwa hinter den erhöhten Sammelzielen und Rücknahmepflichten für Gerätealtbatterien für die Hersteller, die in der neu entwickelten EU-Batterieverordnung angedacht werden. Schließlich kennen Produzent*innen ihre eigenen Produkte nicht nur am besten; sie werden durch das Verantwortungsprinzip auch sanft gezwungen, die Verwendung schwierig zu entsorgender Materialien langfristig durch Forschung und Entwicklung zu reduzieren.
Diese Logik ließe sich auch beim CO2 anwenden. Mit ein paar Unterschieden. Geologische CO2-Speicherung ist möglich, solange Speichervolumen vorhanden sind, und so lange die Speicherung diesen Namen verdient, also wenig bis gar kein CO2 entweicht. Bisher gibt es allerdings nur wenige aktive CO2-Speicher, wie etwa das Sleipner Gasfeld in Norwegen, wo seit 1996 unter dem Meeresboden CO2 gespeichert wird. Ein weiteres Problem ist die Nachfrage nach CO2-Speichern, die bei einer Einführung von EPR ansteigen würde. Um die Nachfrage zu kontrollieren, müssten Regierungen gleichzeitig in Energieeffizienz und erneuerbare Energien investieren, um so den Bedarf an fossilen Brennstoffen zu reduzieren. EPR ist also keine Gesamt-, sondern eine Teillösung für die Übergangszeit zu einem CO2-armen Energiesystem.
Globale Doppelmoral
Doch zurück zur Gegenwart: Natürlich gibt es auch einige – kurzsichtige – Argumente, warum die neuen Investitionen in Öl und Gas nicht ganz so katastrophal sind, wie sie aussehen.
In den USA wurde viel Lärm um das Ölprojekt Willow gemacht, weil es in einem geschützten Gebiet in Alaska errichtet wird und das bisher größte Ölprojekt auf staatlichem Land darstellt. Tatsächlich soll Willow weniger als zwei Prozent der in den USA erzeugten Ölmenge produzieren. Nachdem die US-Regierung dem Ölkonzern Conoco Phillips bereits Land verpachtet hatte, war sie auch verpflichtet, Ölförderung zu erlauben. US-Präsident Joe Biden hat also Wähler*innen betrogen, aber nicht das Gesetz.
Öl ins Feuer zu gießen führt aber bekanntlich auch bei kleineren Mengen schon zum Brand. Denn es geht neben Umweltkonsequenzen und der Vermeidung von Klagen durch Conoco Phillips auch um die Signalwirkung. Wieder einmal hält sich ein wohlhabendes Land sich nicht an die von der Klimawissenschaft ableitbaren Regeln. Wenn 2050 oder früher nur noch soviel CO2 emittiert werden soll, wie durch CO2-Senken abgebaut wird, dann muss mit neuen Investitionen in fossile Brennstoffe Schluss sein.
Auf welcher moralischen und realpolitischen Basis wollen das reiche Nordamerika und Europa sonst mit ärmeren Ländern über Emissionsreduktion debattieren, wenn sie nicht einmal selbst die Emissionen von morgen verhindern, von den heutigen gar nicht die Rede?
Diese Verantwortung trifft nicht nur den westliche Länder, sondern auch zunehmend wohlhabende asiatische Länder. China stützt das isolierte Moskau und seine eigene Energieversorgung mit milliardenschweren Investitionen in die russische Öl- und Gasindustrie. Sowohl der staatliche Ölkonzern Sinopec also auch regionale Energieversorger weiten systematisch ihre Anteile an russischen Projekten aus. Das sind genauso Investitionen in eine zunehmend heiße, chaotische Zukunft wie die neuen Ölprojekte im Westen.
Die größte Menge Öl- und Gas ist aber weder im Westen noch in China zu erwarten, sondern in Qatar, Saudi Arabien, Brasilien und den Vereinigten Emiraten. Wenn es reiche Staaten schon nicht schaffen, vorbildlich früh aus fossilen Brennstoffen auszusteigen, sollten sie zumindest Investitionen ins CO2-Management im ärmeren Süden stützen.