Die andere Seite des Hasses: Linker Antisemitismus erstarkt
Benjamin Nägele und Oskar Deutsch stellten am Mittwoch in Wien den aktuellen Antisemitismus-Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde vor. Bild: Markus Sulzbacher
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Markus Sulzbacher
Reporter

Die andere Seite des Hasses: Linker Antisemitismus erstarkt

Erstmals hat die Meldestelle Antisemitismus mehr antisemitische Vorfälle mit linkem als mit rechtem Hintergrund in Österreich dokumentiert.

Kinder, die am Schulweg beschimpft und bedroht werden, tätliche Angriffe in der Straßenbahn, Drohbriefe, „Kill Jews“-Schmierereien und Übergriffe von Neonazis. Das sind nur einige der Vorfälle, die der aktuelle Antisemitismusbericht der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) beschreibt, der gestern vorgestellt wurde. 

2024 gab es laut Bericht mindestens vier antisemitische Vorfälle pro Tag in Österreich. Ein Negativrekord: Die Gesamtzahl der gemeldeten Vorfälle lag demzufolge bei 1.520. Im Jahr 2023 lag die Zahl noch bei 1.147 gemeldeten Vorfällen. Die meisten Vorfälle des Jahres 2024 weisen einen Israel-Bezug auf – etwa Schmierereien oder Postings im Netz.  

„Dabei handelt es sich ausschließlich um gemeldete Vorfälle, die von unseren Expertinnen und Experten als eindeutig antisemitisch verifiziert werden konnten“, sagt Benjamin Nägele, Leiter der Antisemitismus Meldestelle der IKG. Die IKG bezieht sich auf die IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus.

Sehr junge Täter und Opfer

Es sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Das sei die „neue Realität“, fasste IKG-Präsident Oskar Deutsch zusammen. Besonders sticht in dem Bericht die Zunahme physischer Angriffe hervor – 2024 waren es 24. Ein Jahr zuvor waren es 18 Angriffe. Dabei falle auf, dass sowohl die Täter als auch die Opfer sehr jung seien, so Deutsch.  

Bei rund 70 Prozent der Vorfälle ist ein ideologischer Hintergrund erkennbar. Erstmals gab es mehr muslimische (453) und linke (376) Vorfälle als rechte (223). Deutsch forderte auch die linke Szene explizit auf, in ihrem „Haus zu kehren“ und verstärkt gegen Antisemitismus zu kämpfen. 

Vertiefte Gräben

Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hat die Gräben innerhalb der radikalen Linken in Österreich vertieft. Das zeigte sich bereits am Tag des Überfalls. Während einige Gruppen den Terrorüberfall feierten und einen „Akt des Widerstands“ nannten, bekundeten andere ihre Solidarität mit den Opfern. 

Seit dem Massaker zeigen israelfeindliche Kleinstgruppen keine Hemmungen, gemeinsam mit Hamas-Anhänger*innen, religiösen Fanatiker*innen und türkischen Nationalist*innen zu demonstrieren oder zur Vernichtung Israels aufzurufen. Bündnisse wie diese sind der Grund, warum es dieses Jahr getrennte Demonstrationen gegen den sogenannten Akademikerball der FPÖ und am feministischen Kampftag in Wien gab. 

Die Linke und der Antisemitismus

Ein Teil der Linken will nicht bei Antisemiten anstreifen und stellt das Existenzrecht Israels auch nicht in Frage. Das zeigt sich etwa in „Rape Is Not Resistance“-Transparenten auf der 8.-März-Demo, in der Betrachtung von Islamisten und Nationalisten als ihre (ideologischen) Todfeinde und in der Ansicht von Israel als jenen Staat , der maßgeblich von Überlebenden des Holocausts aufgebaut wurde – das war auch ein wesentlicher Grund, warum die Sowjetunion die Gründung Israels im Jahr 1948 unterstützte. 

Nach dem Sechstagekrieg 1967 änderte die Sowjetunion ihre Linie und damit auch viele Linke. Israel wird seither von Teilen der Linken als „imperialistischer Vorposten“ und „weißer Kolonialstaat“ gesehen, der mit allen Mitteln bekämpft werden darf. Es ist ein Denken, in dem es nur Schwarz und Weiß gibt, Gut und Böse.

Mit dieser Sichtweise haben aber viele deutschsprachige Linke schon Anfang der 1990er-Jahre gebrochen, nachdem sie sich verstärkt mit Antisemitismus in der eigenen Bewegung auseinandergesetzt hatten. 

Nicht nur Rechtsextreme

Dieser seit dem anhaltende Bruch führt dazu, dass es 2025 in Wien linke Demonstrationen in doppelter Ausführung gibt. Und es gibt auch immer wieder Provokationen. Das linke Zentrum W23, das sich konsequent gegen Antisemitismus stellt, wurde in der Vergangenheit mehrmals Ziel von Angriffen. 

So wurde der Eingangsbereich der W23 mit antisemitischen Parolen beschmiert. Zuletzt in der Nacht vom 18. auf den 19. März 2025, direkt vor einer Veranstaltung zu israelbezogenem Antisemitismus. Zusätzlich wurden alle Schlösser der Türen zu den Räumlichkeiten zerstört. Bisher waren es Rechtsextreme, die hinter den Attacken auf die W23 steckten. Das hat sich geändert. 


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