Die freie Wahl: Herd oder Herd
In Österreich gibt es zu wenig Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Das ist nur eines der Probleme, mit denen Familien und Elementarpädagog*innen derzeit zu kämpfen haben. Die schwarz-blauen Landesregierungen setzen derweil auf Rückschritt.
Familien haben es in Österreich gerade nicht wirklich gut. Dank der Teuerung kann ich zusehen, wie mein Erspartes nicht in meine Altersvorsorge oder gar einen Familienurlaub fließt, sondern in Miete, in Unmengen an Wassermelone und einkugelige Eisbecher, die meine Kinder so gerne nach dem Kindergarten essen. Und nein, keine Sorge, ich führe jetzt nicht aus, was die Kugel Eis früher gekostet hat. Immerhin könnte es schlimmer sein. Ohne Eis. Oder ohne einen Kindergartenplatz. Denn in Österreich sieht es da in den Krippen, also bei den unter Dreijährigen, schlecht aus.
Wie schlecht, das zeigen die neuen Ziele des EU-Ministerrats. Der hat gerade seine sogenannten Barcelona-Ziele erhöht: 45 Prozent der Kinder unter drei Jahren sollen bis 2030 an frühkindlicher Betreuung und Bildung teilnehmen können. Da Österreich außer in Wien und dem Burgenland aber noch nicht mal das alte Ziel von 33 Prozent erreicht hat, gilt laut Bildungsministerium bis 2030 nun eine Art Schonziel von 31,9 Prozent. Man muss nicht sonderlich gut rechnen können, um zu erkennen, wie schwach das ist.
Laut Statistik Austria lag die Betreuungsquote von Kindern unter drei Jahren 2022 österreichweit bei 29,1 Prozent, bei Drei- bis Fünfjährigen bei 94,1 Prozent. Für Letztere empfiehlt der Ministerrat das Ziel von 96 Prozent für 2030. ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek erklärte nach einer Anfrage der SPÖ-Bundesrätin und ÖGB-Frauenvorsitzenden Korinna Schumann, dass die vom Rat beschlossenen 45 Prozent bis 2030 unrealistisch seien. Der ÖGB fordert eine Kindergartenmilliarde pro Jahr und einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung.
Zwei Martins – kein Gedanke
„Unrealistisch“. Eine eigenartige Formulierung aus der ÖVP, die das Bildungsministerium seit Ende 2017 fast durchgehend in der Hand hatte. Denn Vorbilder dafür gäbe es genug. In Deutschland gibt es schon seit 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab einem Jahr. In Berlin lag die U3-Betreuungsquote im Jahr 2022 bei 46,6 Prozent, in Brandenburg gar bei 56,7 Prozent – wobei die „neuen“ deutschen Bundesländer historisch stärker sind. Der bundesweite Durchschnitt der Nachbar*innen liegt im Jahr 2022 bei 35,5 Prozent.
Unrealistisch. Ist es nicht eigenartig, dass so ein Spruch aus der Partei von Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher kommt, der gerne Frauen vorwirft, zu wenig und wenn dann auch noch Teilzeit zu arbeiten. Es drängt sich doch die Frage auf, ob sich die beiden ÖVP-Martins schon mal unterhalten haben, wenn der eine will, dass mehr Frauen arbeiten gehen, und der andere höhere U3-Betreuungsquoten für „unrealistisch“ hält.
Die schlechte Nachricht ist, dass Vollzeitarbeit auch nicht die Lösung ist. Denn für eine nachhaltige Arbeitsmarkt-, Familien-, Bildungs- und Gesundheitspolitik braucht es nicht nur mehr Kinderbetreuungsplätze und -personal, sondern auch Arbeitszeitreduktion. Eine Viertagewoche (oder eine 32-Stunden-Woche) bei vollem Lohnausgleich. Der einzige Grund, dass wir uns das Eis und die Miete heute überhaupt noch leisten können ist, dass wir Eltern zu zweit sind, für beide Kinder einen Kindergartenplatz haben und jeweils 32 Stunden arbeiten können. Für mehr als das aktuelle Leben reicht das Geld dann aber auch nicht.
Mehr arbeiten ist möglich, wir haben das lange getan. Mental war das eine Katastrophe, denn die Tage bestanden nur noch aus Arbeit, Haushalt und schlechtem Gewissen. Unsere aktuelle Aufteilung ist ein Privileg, das Geringverdiener*innen oder Alleinerziehende oft nicht haben. Ein enormer Missstand, denn niemand kann ohne Hilfe oder Geld, das Hilfe kaufen kann, seine Kinder beziehungsfördernd betreuen, einen Haushalt führen und Vollzeit arbeiten, ohne deutlich an psychischer und physischer Substanz zu verlieren. Mit beziehungsfördernd meine ich, dass Kinder unter zwölf Jahren ihre Eltern wochentags nicht nur vor 7.30 und nach 18 Uhr sehen sollten. Aus eigener Erfahrung möchte ich das für meine Kinder nicht, für viele ist es aber aus finanziellen Gründen nicht anders möglich.
Die Sache mit der Wahlfreiheit
Feministische Politik muss Eltern, vor allem Müttern, Wahlfreiheit garantieren. Und zwar nicht jene „Wahlfreiheit“, wie sie die neue schwarz-blaue Regierung in Salzburg angekündigt hat. Denn laut Regierungsprogramm möchte die zuständige Landeshauptmann-Stellvertreterin Marlene Svazek (FPÖ) in Salzburg jene Familien finanziell unterstützen, die ihre Kinder „familienintern betreuen“. Auch die schwarz-blaue Landesregierung in Niederösterreich will eine „finanzielle Aufwertung für die Kinderbetreuung im Familienverband“. Eine Herdprämie also.
Wahlfreiheit wird hier nur simuliert. Denn in ländlichen Gegenden gibt es oft sowieso keine andere Möglichkeit, als die Kinder zu Hause zu betreuen. Eine Herdprämie zementiert solche Zustände nur weiter. Denn vor allem soll sie künftig zeigen, dass es gar keinen Mehrbedarf an Krippen- und Kindergartenplätzen gibt, weshalb das Angebot weiterhin nicht ausgebaut werden wird, weshalb dann wieder die Herdprämie in Anspruch genommen wird – und so weiter.
Den Unterschied zwischen individueller Situation und struktureller Benachteiligung im Blick zu behalten ist für diese Debatte essentiell. Denn bestimmt gibt es Eltern, bei denen eine Person – meistens ist es eine Frau – drei Jahre lang zu Hause bleiben will und glücklich damit ist. In der Praxis bringt das aber vor allem und zu oft Frauen in eine finanzielle Abhängigkeit. Eine Trennung könnten sie sich oft gar nicht leisten, verlassen zu werden auch nicht – ein ungleiches Machtverhältnis. Je länger man aus seinem Beruf ausscheidet, desto schwerer scheint oft der Weg zurück. Bei Frauen mit Kindern ist dann auch die Pensionslücke am größten. Sie arbeiten seltener, weniger Stunden und werden im Durchschnitt schlechter bezahlt.
Komplexe Lösungen für komplexe Ungerechtigkeiten
Das sind eine Menge Ungerechtigkeiten, die nur mit vielen unterschiedlichen Maßnahmen ausgeglichen werden könnten. Lohntransparenz und gleicher Lohn für gleiche Arbeit wäre ein Anfang. Eine Viertagewoche würde vor allem berufstätigen Frauen mit Kindern etwas den Druck nehmen, denn sie sind auch heute diejenigen, die den Großteil der Care-Arbeit leisten. Auch für Väter gäbe es mehr Zeit, sich um Kinder, Haushalt und Familie zu kümmern.
Mehr Kinderbetreuungsplätze könnten die Beschäftigungsquote erhöhen und die Pensionslücke verkleinern. Doch mit Betreuungsplätzen alleine ist es nicht getan. In Österreich schließt ein Fünftel der Kindergärten vor 14 Uhr. Auch sind Kindergärten pädagogische Einrichtungen und keine Verwahranstalten. Elementarpädagogik hat einen enormen Wert für die Entwicklung der Kinder, dafür braucht es ausreichend ausgebildetes und angemessen bezahltes Fachpersonal.
Als wir vor einem Jahr aus Berlin nach Wien gezogen sind, war ich ziemlich besorgt, weil der Betreuungsschlüssel in Wien deutlich schlechter ist. So gilt in Berlin seit 2019 für U2 ein Schlüssel von 1:3,75, bei Zwei- bis Dreijährigen 1:4,75. In Wien kann eine U3-Gruppe schon von je einem/einer Elementarpädagog*in und einer Assistenz beaufsichtigt werden – letztere ist dann oft auch noch für die Reinigung zuständig, die in Berlin in der Regel ausgelagert wird.
Wir hatten Glück. Die Kinder lernen viel, unternehmen viel und gehen gern in den Kindergarten. Das liegt vor allem an den engagierten Pädagog*innen. Auch die Kindergartenleitung reißt sich regelmäßig beide Beine aus, um den Laden am Laufen zu halten. Das ist bewundernswert, aber sicher anstrengend. Es ist offensichtlich, dass Kindergärten zu oft ein Kartenhaus sind – gebaut aus schlechten Arbeitsbedingungen, mieser Bezahlung und Personalmangel. Alle paar Wochen bringt es ein Virus, ein Burn-out oder eine Kündigung fast zum Einsturz. Wenn wir also über Betreuungsplätze sprechen, müssen wir immer auch über die Menschen dahinter sprechen.