„Eltern landen reihenweise in Erschöpfungsdepressionen“
„Was vorher nur wenige Eltern gemacht haben, ist mittlerweile Mainstream: Kinder nicht schreien lassen, Tragehilfen oder Kinder zu sich ins Bett holen. Damit ist auch eine neue Verspannung in die Elternschaft eingetreten“, sagt Nora Imlau. Bild: Nessi Gassmann
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Dominik Ritter-Wurnig
Gründer

„Eltern landen reihenweise in Erschöpfungsdepressionen“

Jede fünfte Mutter ist im Burnout oder akut Burnout gefährdet. Wie die Belastung von Eltern sinken kann, ohne die Bedürfnisse der Kinder zu gefährden, erklärt Nora Imlau im Interview. 



Nora Imlau ist ein Internetphänomen. 114.000 Menschen folgen ihr auf Instagram – vor allem Mütter junger Kinder. Täglich meldet sich die Eltern-Influencerin aus der Einschlafbegleitung ihrer Kinder im dunklen Kinderzimmer bei ihren Follower*innen, um Eltern ihre Schuldgefühle zu nehmen und Fragen zu beantworten. Zu ihrem Onlineevent „Entlastender Elternabend“ haben sich 7.000 Menschen angemeldet. 

Imlau schreibt Sachbücher und Artikel für die „Süddeutsche Zeitung“, die „Zeit“ und das „Eltern“-Magazin zu den Themen Erziehung, Neurodiversität und Elternschaft. Ihr neues Buch „Bindung ohne Burnout“ ist gleich in der Erscheinungswoche auf Platz eins der deutschen Sachbuch-Bestsellerliste (Paperback) eingestiegen. Dominik Ritter-Wurnig hat Nora Imlau per Videocall interviewt; parallel erscheint auch ein Auszug aus dem Kapitel über Medienkonsum von Kleinkindern aus „Bindung ohne Burnout“ als Vorabdruck bei tag eins. 

tag eins: Vor Kurzem haben wir einen Artikel veröffentlicht: „Warum Eltern so erschöpft sind“. Dafür haben wir von Eltern viel Zustimmung erhalten. Ist es heute anstrengender, Eltern zu sein als etwa in den 1970er- und 80er-Jahren?

Nora Imlau: Auch früher war es sehr anstrengend, Eltern zu sein. Aber es gibt Untersuchungen, dass Eltern in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren tatsächlich so etwas wie einen Peak erwischt haben, wo Elternsein als relativ gut machbar empfunden wurde. Einerseits hatten Eltern damals das Gefühl, sie machen es anders als die eigenen Eltern, überwinden Kriegstraumata, sind liebevoller mit ihren Kindern und es erfüllt sie. Gleichzeitig waren die Ansprüche noch nicht so hoch wie in unserer heutigen Elterngeneration, dass man permanent das Gefühl hat zu scheitern. Viele Eltern in den 1970er- und 1980er-Jahren haben viel Selbstwert daraus gezogen, bessere Eltern zu sein als ihre eigenen Eltern. Sie haben sich nicht so fertig dafür gemacht, was sie vielleicht noch nicht so gut hinbekommen haben.

Viele Eltern wissen heute mehr als jede Elterngeneration zuvor über die Bedeutung früher Bindungserfahrung oder über die kindliche Entwicklung der Gehirne.

Wie ist das heute?

Der Perfektionismus macht das Elternsein heute schwerer, weil die Maßstäbe für eine gute Elternschaft unglaublich gestiegen sind. Viele Eltern wissen heute mehr als jede Elterngeneration zuvor über die Bedeutung früher Bindungserfahrung oder über die kindliche Entwicklung der Gehirne. Auch große globale Themen wie der Klimawandel, Krieg in der Ukraine, mobile Arbeitswelt und faire Rollenverteilung beschäftigen uns. Das sind Themen, die auch Druck ausüben auf eine Elterngeneration. Die Corona-Pandemie hat viele Eltern kleiner Kinder unglaublich hart getroffen. Ich hab das Gefühl, dass wir jetzt teilweise erst spüren, wie groß die Erschöpfung eigentlich ist, weil Eltern sich ganz lange zusammengerissen haben. 

Sie sind Jahrgang 1983, ich bin 84 geboren – wir sind also in den 1980er-Jahren groß geworden und begleiten heute Kinder. Haben unsere Ideale von bindungsorientierter Erziehung schon in den Achtzigern begonnen?

Die Grundidee der bindungsorientierten Erziehung hat in den 1970er-, 80er-Jahren Einzug gehalten. Inspiriert durch Ideen wie der antiautoritären Erziehung ging es schon damals stark darum, sich daran zu orientieren, was Kinder brauchen. Gleichzeitig war es in Deutschland bis 2001 legal seine Kinder zu schlagen. Dieses Recht auf gewaltfreie Erziehung macht einen großen Unterschied (Anm. der Red.: In Österreich wurde das Gewaltverbot in der Erziehung 1989 beschlossen.). Es ist ein starkes Signal, wenn der Staat sagt „Das geht einfach nicht“.

Bindungsorientierte und bedürfnisorientierte Erziehung

Sowohl bindungs- als auch bedürfnisorientierte Erziehung sind im deutschsprachigen Diskurs Übersetzungen des englischsprachigen Erziehungsmodell Attachement Parenting. Beide Begriffe werden synonym verwendet. Im Kern geht es in Abgrenzung zu traditionellen Erziehungsstilen um den Fokus auf das Bedürfnis nach Bindung des Kindes. Im Alltag ist damit gemeint, die Bedürfnisse der Kinder genauso wichtig zu nehmen wie die der Erwachsenen. Kindern soll auf Augenhöhe begegnet werden. Statt brav zu sein, Disziplin und Strafen, setzt bindungsorientierte Erziehung auf Kommunikation, Nähe, Verständnis und Begleitung. Das erfordert viel Aufmerksamkeit und Empathie von den Bezugspersonen des Kindes. Mehr dazu gibt es hier.

Wo ist die Idee entstanden, Kinder bindungsorientiert zu erziehen?

Die Idee des Attachment Parenting wurde in den 1990er-Jahren vom Ehepaar Sears in den USA entwickelt und kam mit ein bisschen Verspätung als bedürfnisorientierte Erziehung nach Deutschland. Was vorher nur wenige Eltern gemacht haben, ist mittlerweile Mainstream: Kinder nicht schreien lassen, zu sich ins Bett holen oder Tragehilfen verwenden. Damit ist auch eine neue Verspannung in die Elternschaft eingetreten.

Die Leistungsgesellschaft trifft auf unerreichbar hohe Elternschaftsideale. Das ist ein Rezept für ein Desaster. Die Eltern landen reihenweise in Erschöpfungsdepressionen. 

Klingt doch erstmal gut, inwiefern Verspannung? 

Viele Argumente für die Bindungsorientierte Elternschaft – gerade in den frühen Werken zu diesem Thema – waren sehr angstbasiert, à la „Du hast heute die Zukunft deines Kindes und seines Gehirns in deiner Hand“ oder „Entweder du machst das gut und dann lebt dein Kind ein psychisch gesundes Leben oder du traumatisierst es im zarten Alter von 2 Monaten und dann ist es eigentlich vorbei“. Diese Art verkürzter Wissenschaftskommunikation hat dazu geführt, dass viele Eltern denken: „Elternschaft ist echt ein krasses Projekt, bei dem ich nichts falsch machen darf“. Die Leistungsgesellschaft trifft auf unerreichbar hohe Elternschaftsideale. Das ist ein Rezept für ein Desaster. Die Eltern landen reihenweise in Erschöpfungsdepressionen. 

Ihr neues Buch heißt „Bindung ohne Burnout“ – was bedeutet Burnout bei Eltern? 

In den letzten Jahren hat man immer stärker festgestellt, dass sich das Krankheitsbild Burnout auch bei vielen Müttern zeigt – auch bei Vätern, aber vor allem bei Müttern. Das hat mit der klassischen Rollenverteilung zu tun, die in vielen Familien immer noch vorherrscht. Frauen leisten den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit. Mütter rennen hochmotiviert für „ihren Job“ los und vernachlässigen dabei ihre eigenen Bedürfnisse so massiv, dass irgendwann ihr Körper streikt. Ein Burnout ist letztlich eine Manifestation unbefriedigter Bedürfnisse, der Körper zieht die Notbremse. Nach aktueller Schätzung des Müttergenesungswerks ist jede fünfte Mutter in Deutschland mit minderjährigen Kindern entweder im Burnout oder akut Burnout-gefährdet. Das heißt nicht, dass alle eine Therapie bekommen oder machen.

Man muss einen Weg finden, wie man ein unperfektes, liebevolles, fehlerfreundliches, bedürfnisorientiertes Familienleben schaffen kann für alle.

Sich krank schreiben lassen oder den Job zu kündigen ist ja keine Option. Wie kommen Eltern da wieder raus?

Einen Elternjob kann man nicht einfach kündigen und deswegen musste man in der Therapie von Eltern ganz neue Wege gehen. Als die ersten Mütter mit Burnout diagnostiziert wurden, sind Therapeut*innen oft in ein Schwarz-Weiß-Denken gefallen und haben etwa gesagt: „Wenn es Ihnen jetzt so schlecht geht, dann muss Ihr Kind zurückstecken: abstillen, Schlaftraining und im eigenen Bett schlafen lassen. Hauptsache Sie kommen wieder zu Ruhe.“ Da wurde die Last von den Eltern genommen und den Kindern auf die Schulter gelegt. 

Mein Buch ist der Versuch, Burnout-Prophylaxe betreiben zu wollen, ohne die Bindungsorientierung zu opfern. Man muss einen Weg finden, wie man ein unperfektes, liebevolles, fehlerfreundliches, bedürfnisorientiertes Familienleben schaffen kann für alle. Wir dürfen uns nicht in diese Megaerschöpfung reinarbeiten, aus der man dann nur mit extremen Maßnahmen wieder rauskommt. Wir müssen nicht in allem die Besten sein, um gute Eltern für unsere Kinder zu sein.

Im Klappentext Ihres Buches werden Sie vom Verlag „Stimme einer neuen Elterngeneration“ genannt. Im Vergleich zu vielen Expert*innen oder Erziehungsratgeber*innen haben Sie einen relativ entspannten Umgang mit Medien und verteufeln auch das Smartphone nicht. Wie kann man das Handy als gutes Werkzeug zur Entlastung für Eltern einsetzen?

Die heutigen Bildschirmmedien haben ein großes Suchtpotential, aber gleichzeitig stelle ich mir die basale Frage, was die Alternative ist? Eltern haben mit dem Einsatz von Bildschirmmedien die Möglichkeit, sich eine Pause zu erkaufen, um in Ruhe auf die Toilette zu gehen, einen Tee zu trinken oder sich für einen Moment hinzulegen. Ich finde das völlig legitim. Es gibt keine einzige Studie, die für einen dosierten Medieneinsatz in einem insgesamt liebevollen, anregungsreichen Setting ein Problem nachweist. Wenn wir wollen, dass Eltern weniger am Handy hängen, dann hilft es aus meiner Sicht null, diese Eltern zu beschämen. Wir sollten uns stattdessen fragen, wie Eltern ihre Bedürfnisse jenseits des Smartphones besser erfüllen können.

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Mehr dazu könnt ihr im Buchauszug von „Bindung ohne Burnout“ nachlesen: „Medien sind nicht der Endgegner“.
Wenn man mit den Kindern auf dem Spielplatz ist, während zu Hause die Reinigungshilfe schon mal die Küche sauber macht, dann ist es einfacher, entspannt und zugewandt zu sein, als wenn ich finanziell mit dem Rücken zur Wand stehe.

Der Anspruch an Elternschaft ist gestiegen und im Vergleich zur letzten Generation ist auch der wirtschaftliche Druck höher, als eine Familie mit einem Einkommen ein gutes Leben führen konnte. Brauchen Familien nicht einfach mehr Geld?

An vielen Stellen ist das so. Wenn man mit den Kindern auf dem Spielplatz ist, während zu Hause die Reinigungshilfe schon mal die Küche sauber macht, dann ist es einfacher, entspannt und zugewandt zu sein, als wenn ich finanziell mit dem Rücken zur Wand stehe. Ich bin absolut überzeugt, dass man mit mehr finanziellen Ressourcen sehr viel Druck aus dem Familiensystem nehmen kann. Gleichzeitig kann man sich Bindung und Verbindung nicht kaufen. Es gibt auch Familien, die unglaublich viel Geld haben, doch die Kinder leben trotzdem in großer Einsamkeit und in einer Form von Wohlstandsverwahrlosung.

Einer Ihrer Leitsätze, der sogar eingerahmt bei Ihnen zu Hause hängt, lautet: „Mein Kind macht kein Drama. Es erlebt ein Drama.“ Was meinen Sie damit?

Kinder, die einen Gefühlsausbruch oder Wutanfall haben, ziehen nie eine Show ab. Es geht nicht darum, die Eltern zu manipulieren. Die Hirnstrukturen der Kinder arbeiten so, dass sie in tiefe Verzweiflungszustände rutschen können, über totale Kleinigkeiten, die sich für die Kinder aber existenziell anfühlen. Wir müssen uns dann nicht genauso dramatisch fühlen, aber wir müssen mit unserem Kind in Verbindung gehen. Das geht oft nur über das Validieren von Schmerz. Wenn ich zu meinem Kind sage, „Ach, stell dich doch nicht so an“, dann kappe ich die Verbindung zwischen uns. Wenn ich meinem Kind sage „Das ist schwer, das versteh ich voll“, dann spürt mein Kind, dass es mit seinen schwierigen, verzweifelten und wütenden Gefühlen angenommen wird. Der Satz erinnert mich daran, dass es nicht mein Job ist, ein intensives Gefühl meines Kindes zu bewerten, sondern anzunehmen und adäquat auf das Bedürfnis des Kindes zu reagieren.

Viele Eltern lernen parallel mit ihren Kindern, dass es okay ist, wütend, traurig, eifersüchtig, verzweifelt, genervt oder gelangweilt zu sein.

Warum ist Gefühlsstärke für Eltern und Kinder oft eine zusätzliche Belastung? 

Viele Eltern finden es toll, wenn Kinder sich sehr freuen können, sehr begeisterungsfähig und liebesfähig sind, aber in unserer Gesellschaft haben wir gelernt, dunkle Gefühle wie Wut, Verzweiflung oder auch Eifersucht zu verstecken. Kinder haben die ganze Palette aller Gefühle und es gibt Kinder, die das ungefiltert raus lassen. Viele Kinder, auch von zugewandten Eltern, wurden grundsätzlich bei krassen Wutanfällen ins Zimmer geschickt oder scharf begrenzt mit Aussagen wie „So sprichst du nicht mit mir“ oder „Reiß dich mal zusammen“. Wenn Kinder solche Rückmeldungen erfahren, dann verinnerlichen sie, dass sie diese schwierigen Gefühle mit sich selbst ausmachen müssen. 

Warum können wir als Gesellschaft so schwer mit kindlichen Wutanfällen umgehen?

Wenn unsere Kinder Gefühle ungefiltert raushauen, die wir selbst seit 30 oder 40 Jahren unter dem Deckel halten, kann das für Eltern triggernd sein. Die Kinder überschreiten oft auch unsere Grenzen, wenn sie etwa auf uns losgehen oder ohrendröhnend laut schreien. Für die gesunde psychische Entwicklung ist es aber wichtig, dass unsere Kinder die Erfahrung machen, dass alle Gefühle sein dürfen. Kinder müssen nur einen Umgang damit lernen. Das ist für Eltern eine große Aufgabe, ihnen fehlen oft die Rollenvorbildern. Viele Eltern lernen parallel mit ihren Kindern, dass es okay ist, wütend, traurig, eifersüchtig, verzweifelt, genervt oder gelangweilt zu sein. ___STEADY_PAYWALL___

Der Begriff der Gefühlsstärke ist nichts anderes als ein Reframing, um auf dasselbe Verhalten der Kinder eine neue Perspektive einnehmen zu können. 

In meinem eigenen Umfeld beobachte ich, dass sich Eltern als neurodivergent identifizieren bzw. diagnostiziert werden. Braucht es diese Kategorie wie gefühlsstark oder neurodivergent überhaupt oder sind die menschlichen Gehirn nicht per se alle divergent und unterschiedlich?

Das ist eine große Diskussion und ich bin auch noch zu keinem abschließenden Urteil gekommen. Einerseits braucht es solche Begriffe, damit Eltern sich austauschen können. Kinder, die ihre Gefühle wild und unausgerichtet nach außen tragen, bezeichne ich als gefühlsstark. Diese Kinder ecken oft an und häufig wurde über sie sehr abwertend als verhaltensauffällig, erziehungsresistent, schwierig, anstrengend oder tyrannisch gesprochen. Das macht etwas mit der Eltern-Kind-Beziehung, aber auch mit dem Selbstbild des Kindes. Der Begriff der Gefühlsstärke ist nichts anderes als ein Reframing, um auf dasselbe Verhalten der Kinder eine neue Perspektive einnehmen zu können. 

Und andererseits?

Gleichzeitig ist das Thema in Neurodivergenz schwierig. Wir sind alle neurodivers, wir sind alle verschieden. Aber es gibt noch die Unterscheidung zwischen neurotypischen und neurodivergenten Menschen. Neurotypisch wird verwendet als Bezeichnung für Menschen, deren Gehirne und deren Wahrnehmung quasi den Normen unserer Kultur und Gesellschaft entspricht. Das zeigt schon, wie kulturell gesetzt das ist. Die Gehirne arbeiten einfach verschieden und irgendjemand sagt, das ist normal, das ist nicht normal. Mein Ideal wäre, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, wo diese Termini keine Rolle mehr spielen. Aber wir leben in einer Welt, die für Menschen gemacht ist, deren Gehirne und Wahrnehmungen in einer bestimmten Weise arbeiten. Dann gibt es ungefähr zwanzig Prozent aller Menschen, die aufgrund der Arbeitsweise ihres Körpers, Nervensystems oder Gehirns in dieser Welt so nicht funktionieren können. Sie spüren, diese Welt, wie sie ist, ist nicht für sie gemacht.

Viele Eltern beobachten ihre kleinen Kinder und fragen sich, ob das eigene Kleinkind neurodivergent ist, ADHS hat oder autistisch ist. Gerade durch Social Media landet man schnell in der Zuschreibungsfalle: Etwa mein Kind ist bestimmt autistisch, weil es die Spielsachen in einer exakten Reihe aufstellt. Lohnt es sich als Elternteil sich aktiv damit auseinanderzusetzen oder kommt es nicht sowieso im Falle der Fälle auf einen zu?

All diese Diagnosen sind überhaupt nichts Schlimmes. Es ist immer gut, Kinder achtsam zu beobachten. Doch ganz viele Verhaltensweisen haben für sich genommen gar keinen diagnostischen Wert, auch wenn uns das manchmal über soziale Netzwerke vermittelt wird. Unzählige Kinder machen eine Reihe mit Spielsachen und sind nicht autistisch. Unzählige Kinder haben emotionale Ausbrüche und haben kein ADHS. Interessiert hinzugucken ist gut. Eine mögliche Diagnose im Hinterkopf zu haben, weil es vielleicht in ein paar Jahren relevant ist, ist auch gut. In Panik zu verfallen, weil man denkt, man hat qua Instagram sein 18 Monate altes Kind mit Autismus diagnostiziert, davon würde ich abraten.

Viele von uns sind mit liebenden Eltern aufgewachsen, aber diese Liebe hat sich oft ein bisschen konditional angefühlt.

Eine Sache, die ich aus dem Buch herausgezogen habe, ist, dass sie immer wieder dafür plädieren, dass es sich Eltern öfter leichter machen sollen: Fertigessen statt selber kochen, Unterstützung holen, Fernsehzeit zuzulassen. Um es auf den Punkt zu bringen: Was ist der wirklich essentielle Teil, wenn man Kinder erzieht? Was ist unsere wichtigste Aufgabe als Eltern?

Das Allerwichtigste ist, für unsere Kinder ein sicherer Hafen zu sein, damit unsere Kinder spüren, diese Menschen sind für mich da, die mögen mich und die halten zu mir, egal was auch passiert. Die können auch aushalten, wenn ich schwierig bin, wenn ich mich mal gegen sie wende oder wenn ich Regeln übertrete. Die können mich halten, mit allem, was ich bin. 

Das ist etwas, das vielen Menschen in unserer Elterngeneration fehlt. Viele von uns sind mit liebenden Eltern aufgewachsen, aber diese Liebe hat sich oft ein bisschen konditional angefühlt. Ich kenne viele Menschen in unserem Alter, die bis heute Angst haben, ihre Eltern zu enttäuschen und nicht gut genug zu sein. Das Allerwichtigste, das Kinder brauchen, ist die Bindungssicherheit. Wenn Eltern spüren, dass die Bindungsfähigkeit und Zugewandtheit ihren Kindern gegenüber unter Dauerstress leidet, dann ist alles gut, was diesen Stress wegnimmt, damit sie weiter diese Sicherheit geben können. Es ist wichtiger, wie sicher Eltern sind, als wie oft jetzt genau die Kinder „Bobo Siebenschläfer“ gucken.

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