„Jugendliche feiern es teilweise, wenn der Boulevard über sie berichtet“
„Die Polizei aber hat über Wochen und Monate nichts gemacht“, sagt der Sozialarbeiter Fabian Reicher. Foto: Christopher Glanzl
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Naz Küçüktekin
Reporterin

„Jugendliche feiern es teilweise, wenn der Boulevard über sie berichtet“

Gewalt zwischen migrantischen Jugendlichen bestimmte in den vergangenen Wochen die Schlagzeilen – besonders in Boulevardmedien. Der Sozialarbeiter Fabian Reicher kennt die Szene bestens. Im Interview macht er Polizei und Boulevardmedien schwere Vorwürfe.

 

Messerstechereien, Schlägereien und offen ausgetragene Kämpfe auf Wiens Straßen. Die Konflikte von rivalisierenden Gruppen erreichten in den letzten Wochen eine neue Stufe der Eskalation. Fabian Reicher ist mit den Protagonisten dieser Auseinandersetzungen bestens vertraut. Der Sozialarbeiter arbeitet seit 2011 mit Wiener Jugendlichen, aktuell in der Beratungsstelle Extremismus. Im Gespräch mit tag eins erklärt er, wo es Versäumnisse gibt, wo Selbstkritik angebracht wäre, und wie Politik und Medien die Polarisierung teils verstärken.

 

In den letzten Wochen kam man an dem sogenannten Bandenkrieg medial kaum vorbei. Woher kommen diese Konflikte?

Fabian Reicher: Bleiben wir kurz beim Framing des „Bandenkrieges“. Es gab keinen Bandenkrieg, es ging auch nicht um organisierte Kriminalität oder ähnliches. Das hat neben allen Expert*innen auch die Polizei in allen Presseaussendungen betont. Trotzdem wurde der Begriff weiterhin benutzt, egal ob vom Boulevard oder den sogenannten „Qualitätsmedien“. Da frage ich mich schon was wichtiger ist, eine wahrheitsgemäße Berichterstattung oder die krasse Schlagzeile.

Und woher kommt die Eskalation?

Wir in der Jugend- und Sozialarbeit sind kriegen seit Februar von Konflikten mit. Begonnen hat es mit einer Auseinandersetzung im 20. Bezirk, wo eine Gruppe von Jugendlichen mit hauptsächlich syrischen Wurzeln tschetschenische Jugendliche von einem Platz vertreiben wollte. Das hat nicht geklappt, wodurch die syrischen Jugendlichen einen Gesichtsverlust erlitten und Rache geschworen haben. Unter dem Label 505 hat die Gruppe dann über Monate hinweg zum Teil junge Tschetschenen und Tschetscheninnen im öffentlichen Raum angegriffen. Auf der Straße haben Tschetschenen den Ruf die härtesten zu sein und an diesem negativen Ruf wollte sich diese Gruppe hochziehen. Nach dem Motto: wenn wir Tschetschenen angreifen, dann sind wir die härtesten.

Wie ging es dann weiter?

Das hat sich über Monate hinweg zugespitzt, auch weil Polizei und Medien weggeschaut haben. Wenn Migranten auf Migranten losgehen interessiert das scheinbar niemanden. Erst als die Auseinandersetzung in Meidling so groß wurde (Anm.: Anfang Juli kam es in der Nähe des Bahnhof Meidling zu einer Massenauseinandersetzung zwischen den zwei Gruppen, bei der vier Personen schwer verletzt wurden), dass es nicht mehr zu übersehen war, haben sich alle draufgestürzt. Dass das Ganze nicht komplett eskaliert ist, ist vor allem den progressiven Kräften in der tschetschenischen und der syrischen Community zu verdanken.

Wie hast du diese Entwicklung in den Communitys wahrgenommen?

Gerade die tschetschenische Community hat sich schon sehr stark im Stich gelassen gefühlt. Das muss man sich mal vorstellen, es war über Monate hinweg für tschetschenische Jugendliche nicht möglich auf die Straße zu gehen, ohne Angst davor haben zu müssen, zusammengeschlagen, abgestochen oder sexuell belästigt zu werden. Wenn der Staat und staatliche Institutionen nicht handeln, entsteht bei manchen das Bedürfnis die Sache selbst in die Hand zu nehmen, gerade bei Jugendlichen. Lange Zeit hat es die Community geschafft die Jugendlichen zu beruhigen und ihnen zu vermitteln, dass wir hier in einem Rechtsstaat leben, dass es Aufgabe der Polizei und Justiz ist die Gewalt zu stoppen, aber es ist halt nichts passiert. ___STEADY_PAYWALL___ Um eine weitere Eskalation zu verhindern haben Vertreter der tschetschenischen Community dann mit Vertretern der syrischen Community Kontakt aufgenommen und Friedensgespräche initialisiert. Die Gewalt muss aufhören – diese Message haben wir dann auch an die Jugendlichen über Social Media verbreitet, das hat wirklich gut funktioniert.

Warum braucht es in einem Rechtsstaat wie Österreich die Initiative aus den Communitys, damit solche Konflikte geregelt werden können?

Die Reaktionen von Medien und Politik auf die initialisierten Friedensgespräche waren zum Teil wirklich erschreckend. Rassistische Narrative von trivialen Clanstrukturen, die hier eine Parallelgesellschaft etablieren wollen, wurden herbeigeschrieben. Das macht zwar eine gute Schlagzeile, entspricht aber nicht der Realität. Der Rat der Tschetschenen und Inguschen in Österreich ist beispielsweise ein demokratisch organisierter Verein von Personen, die gewählt werden um Verantwortung für die Community übernehmen. Die Friedensgespräche sollten die Arbeit von Polizei und Justiz nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Inwiefern?

Die Polizei aber hat über Wochen und Monate nichts gemacht. Und was soll Betroffene  denn dann machen? Abwarten, bis alles eskaliert. Auch in unserem Justizsystem gibt es Möglichkeiten der Diversion. Aber natürlich kann das eine das andere nicht ersetzen. Im besten Fall funktionieren die staatlichen Institutionen. Im allerbesten Fall überlegen sich Staat und Gemeinde, wie man mit den Communitys zusammenarbeiten kann. Die tschetschenische Community ist jetzt circa 20 Jahre da. Was in dieser Zeit entstanden ist, ist richtig stabil. Die Straftaten von Tschetschenen gehen zurück. Wenn man länger da ist, sich hier sicher fühlt, dann funktioniert natürlich alles auch viel besser. Die syrische Community ist erst sehr kurz da, sie sind auch nochmal viel diverser. Da bräuchte es auf jeden Fall staatliche und städtische Strukturen, die die Community dabei unterstützen, auch eigene progressive Strukturen aufzubauen.

Wie könnte so eine konkrete Zusammenarbeit aussehen?

Der Rat der Tschetschenen und Inguschen hat sich, als sie sich 2015 gegründet haben, proaktiv an Institutionen gewendet. Daraus sind Projekte wie „Cop & Che“, wo man mit der Polizei zusammenarbeitet, entstanden. Und das ist ein absolutes Erfolgsprojekt.  Es wäre wichtig, auch für die syrische Community solche Strukturen aufzubauen und diese Chance nicht zu verpassen.

Eine Forderung, die nun wieder lauter wird, ist das Abschieben von straffälligen Asyl-  oder subsidiär Schutzberechtigten. Zuletzt etwa auch von Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr.

Rufe nach Abschiebungen tragen auf jeden Fall nicht dazu bei, dass die Gewalt weniger wird. Wenn ich die ganze Zeit höre, du bist in dem Land sowieso nicht willkommen und wenn die richtige Partei gewählt wird, dann seid ihr sowieso alle weg, dann kann ich hier auch nie ankommen. Wieso sollte ich mich in einem Land integrieren und mich mit den Werten identifizieren, wenn ich jederzeit damit rechnen muss, dass ich wieder in das Kriegsland, wo ich hergekommen bin, zurück muss. Ohne Perspektive bleibt oft nur ein negatives Identitätskonzept vom harten Straßenkämpfer. Wenn wir hier ein friedliches Zusammenleben in Wien haben wollen, dann schaden solche populistischen Forderungen und diese zugespitzte, reißerische Berichterstattung enorm.

Inwiefern schaden solche Debatten?

Eine der Hauptmotivation von gewaltorientierten Gruppen, ist die sogenannte negativ Identität. Das heißt, wenn ich schon nichts bin, dann bin ich zumindest der, vor dem alle Angst haben. Bei Leuten, die sich das Label 505 geben, sieht man sehr gut, wie sich an dem negativen Image, das die tschetschenische Community leider hat, hochziehen wollten, um selbst als die Härtesten zu gelten. Da wurden sie von den Medien auch stark unterstützt. Jugendliche feiern es teilweise, wenn der Boulevard über sie berichtet. Genau das ist das, worum es ihnen geht. Ich kann mich erinnern, 2015 hat „Die Presse“ einen Artikel über Kids, mit denen ich gearbeitet habe, mit dem Titel „Tschetschenische Jugendbanden – sogar die Polizei hat Angst vor ihnen“ veröffentlicht. Das war das Schönste, was ihnen passiert ist. Das war wie eine Auszeichnung für sie.

Warum?

Es ist immer problematisch, wenn Medien die Eigenbezeichnungen und Selbstbeschreibungen reproduzieren. Wie gesagt, diese Jugendlichen wollen sich so brutal wie möglich inszenieren. Umso erschreckender finde ich daher auch, wenn Journalist*innen mit Kameras in  Parks gehen und Jugendliche fragen, ob es Banden gibt oder wer die Härtesten sind. Na, was werden die Kids machen? Ich bin tatsächlich auch sehr erschrocken darüber, dass Qualitätsmedien oder vermeintliche Qualitätsmedien direkt aus irgendwelchen Telegram-Foren zitieren. Woher weiß die Redaktion, wer dahintersteckt? Es sind zum Teil 12-jährige, die irgendwas schreiben, um cool zu sein. Das muss man kontextualisieren, auf Richtigkeit überprüfen. Aber das kann ich halt beim Forum, wo alle anonym sind, nicht. Also wieso zitieren Medien das dann?

Wie sollte man diese Debatte führen?

Anstatt medial auf migrantische Jugendliche einzuprügeln, sollten wir die Strukturen, die diese Gewalt bedingen, hinterfragen. Jugendliche sind immer ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn sie beispielsweise die ganze Zeit mitkriegen, wie Medien und Politik Gewalt gegenüber Zivilist*innen rechtfertigen und als Akt der Selbstverteidigung legitimieren, wie beispielsweise gerade in Gaza, warum sollten sie das dann nicht in ihrem eigenen jugendkulturellen Stil reproduzieren. Das war bei diesem Konflikt besonders sichtbar. Auch diese Ethnisierung von Konflikten unter Jugendlichen ist problematisch. Man weiß aus der Kriminalsoziologie, dass die wichtigste Kategorie die sozioökonomische Herkunft ist. Ein gutes Beispiel ist auch die Messerattacke in Favoriten vom Wochenende, wo ein junger Afghane einen jungen Iraker niedergestochen hat. Dabei ging es nicht um die ethnische Herkunft des Opfers. Auslöser war ein Streit über nicht zurückgegebene Kleidung. Auch sind ein großer Teil der syrischen Kids, die bei den Auseinandersetzungen der letzten beteiligt waren, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die fremd untergebracht sind. Für die gibt es viel zu wenig Ressourcen.

Was bräuchte es jetzt?

Es müssen alle zuständigen Stellen ihren Job machen. Die Jugendarbeit nehme ich nicht aus. Und an uns alle gerichtet: Wer nicht von einer Empörungswelle in die nächste taumeln will, muss sich ernsthaft mit den Hintergründen auseinandersetzen. Sonst bewegen wir uns keinen Millimeter weiter und die Gewalt wird niemals enden.

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Fabian Reicher arbeitet seit vielen Jahren in der Jugend- und Sozialarbeit, derzeit bei der Beratungsstelle Extremismus. Gemeinsam mit der Journalistin Anja Melzer hat er das Buch „Die Wütenden – Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen“ geschrieben.
Autor*in: Naz Küçüktekin

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