Warum ich nie mehr meine Freund*innen für eine romantische Beziehung vernachlässigen möchte
Damit kommt man ganz gut durchs Leben: Ein unterstützendes Netzwerk aus wenigen, aber engen Freund*innen. Bild: Dedraw Studio / Adobe Stock
Emil Biller's Picture
Emil Biller
Reporter

Warum ich nie mehr meine Freund*innen für eine romantische Beziehung vernachlässigen möchte

Eine langjährige Paarbeziehung gilt in unserer Gesellschaft als das Ideal für ein erfülltes Leben. Aber es geht auch anders.


Der Winter 2020/21 war hart. Covid feierte in der neuen Variante Alpha sein erstes Comeback. Zweiter Lockdown incoming. Und ich war plötzlich alleine. In meiner kleinen Einzimmerwohnung in Wien. Mit einem brummenden Kühlschrank und einer scheppernden Gastherme.

Meine Beziehungsperson hatte sich nach mehr als zweieinhalb Jahren von mir getrennt. Nach dem Gespräch war ich laut schluchzend zu Fuß über den dunklen, verlassenen Franz-Josefs-Bahnhof nach Hause gegangen. In meiner Wohnung hatte mich Stille erwartet. Den ersten Lockdown hatten wir noch gemeinsam hier verbracht, auf 35 Quadratmetern, inmitten tausender Puzzleteile und unserer Yogamatten.

Es erschien mir damals nicht notwendig, neue, engere und emotional tiefgehende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.

In den Jahren zuvor hatte ich mich sehr auf diese romantische, monogame Beziehung fokussiert. Es war meine erste Beziehung, das erste Mal richtig verliebt sein, das gesamte Leben in vollen Zügen (und anderen Verkehrsmitteln) miteinander teilen. Meine Freund*innen waren auch die Freund*innen meiner Beziehungsperson und umgekehrt. All das war weg – von einer Sekunde auf die andere.

Ohne es zu merken, hatte ich es verabsäumt, mir ein soziales Netz unabhängig von meiner Paarbeziehung zu stricken. Es erschien mir damals nicht notwendig, neue, engere und emotional tiefgehende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Im Gegenteil, ich vernachlässigte bestehende Freundschaften und zog mich zurück, ruhte mich auf meiner Beziehung aus. Eine Person für alle Bedürfnisse. Sehr praktisch.

Beziehung vs. Freundschaft

„Die romantische Paarbeziehung wird als wichtigste zwischenmenschliche Beziehung gefördert und forciert“, schreibt die deutsche Autorin Emilia Roig in ihrem Buch „Das Ende der Ehe“. Im Umkehrschluss werden alle anderen Beziehungsformen abgewertet: „Wenn Menschen eine Paarbeziehung eingehen, wird weithin akzeptiert, dass diese Beziehung die wichtigste ist und Freundschaften ab sofort weniger Raum einnehmen werden.“ Aber auch wenn das gesellschaftlich als „normal“ angesehen wird, verletzt es Menschen. 

Auf meinen Social-Media-Aufruf während der Recherche für diesen Text antworteten mir viele Leute mit gebrochenen Herzen. Wegen vermeintlichen (besten) Freund*innen. Da heißt es etwa: Die beste Freundin habe sich aufgrund einer neuen Paarbeziehung distanziert, ganz ohne es zu merken. Oder: Es sei zuvor schon schwierig gewesen, die Freundschaft aufrechtzuerhalten, aber als dann die neue Beziehung kam, war es komplett vorbei. 

„Ich habe mich noch nie so verletzt gefühlt.“

Eine junge Frau – wir nennen sie Anna-Lisa, mit ihrem echten Namen möchte sie hier nicht vorkommen – treffe ich am Wiener Donaukanal. „Mir ist es tatsächlich mehrmals hintereinander passiert, dass ich von meinen besten Freund*innen für ihre Partner*innen ,verlassen‘ wurde. Das hat unfassbar weh getan.“ Die 23-Jährige zündet sich eine Zigarette an und schaut aufs vorbeiziehende Wasser.

„Es gab eine Freundin, mit der ich zu Beginn der Pandemie zusammengewohnt habe. Wir haben jeden Tag miteinander verbracht, im gleichen Bett geschlafen, wir sind gemeinsam am Fensterbrett gesessen, haben geraucht und gezeichnet.” Die beiden seien in dieser Zeit unzertrennlich gewesen, mehr wie Geschwister. 

Aber dann war der Lockdown vorbei und jene Freundin in einer neuen Paarbeziehung. „Ich habe mich anfangs sehr für sie gefreut. Aber dann habe ich komplett den Draht zu ihr verloren, emotional und auch physisch. Ich konnte nichts mehr ansprechen, sie war kaum noch in der WG, und wenn, dann nur mit ihrem Freund im Doppelpack.“

Für Anna-Lisa war diese Zeit emotional sehr aufwühlend. Sie versteht nicht, wie sich die beste Freundin so verhalten konnte: „Ich habe mich noch nie so verletzt gefühlt.“ Auch in einer anderen Freundschaft hat die Studentin ähnliche Erfahrungen gemacht. Als sie die Freundin darauf ansprach, habe die nur gesagt: „Ja, ich sehe das Problem, sorry, aber Freundschaften sind jetzt einfach nicht meine Priorität.“ 

Komplexe Freundschaftsnetzwerke 

Warum töten romantische Beziehungen so oft Freundschaften? 

Zum einen liege das an der großen Komplexität von Freundschaftsnetzwerken, erklärt mir der deutsche Soziologe und Freundschaftsforscher Janosch Schobin: „Schon in einer Schulklasse gibt es unendlich viele mögliche Netzwerke. Und wenn jetzt in ein Freundschaftsnetzwerk eine neue Person, etwa ein*e Partner*in, eintritt, beginnt sich etwas zu verschieben, neu zu verdrahten, und alle anderen Personen und ihre Netzwerke müssen sich daran anpassen.“ 

Außerdem sind in unserer Gesellschaft romantische Beziehungen meistens exklusiv. Freundschaften hingegen nicht. „Durch ihre Exklusivität binden Paarbeziehungen relativ viele Ressourcen wie Aufmerksamkeit, Zeit und Geld, die dann für Freund*innen fehlen“, sagt Schobin. Auch gehen wichtige Funktionen von Freundschaften in die Beziehung über. Die tröstende Umarmung nach einem harten Tag übernimmt dann oft die neue Beziehungsperson und nicht mehr der*die beste Freund*in.

Ich musste lernen, eine Freundschaft als enge zwischenmenschliche Beziehung wahrzunehmen, in die ich Zeit und Energie investieren muss.

Oft gibt es zwischen alten Freund*innen und neuen Partner*innen auch Reibereien – Eifersucht, Missgunst und verletzte Gefühle. „Es kommt zu Enttäuschungen, weil den betroffenen Freund*innen quasi gezeigt wird, dass sie jetzt ihren Freundeskreis verändern müssen“, sagt Schobin. Sie müssen mit dem*der neuen Partner*in in Beziehung treten, sich auch selbst neu verdrahten.

Mit diesem Verdrahten habe ich in den Jahren seit meiner Trennung viele Erfahrungen gemacht. Ich habe es geschafft, mir einen Kreis aus lieben und engen Freund*innen aufzubauen, die sich großteils auch untereinander gut verstehen, die inzwischen sogar enge freundschaftliche Beziehungen zueinander pflegen. 

Mein Zugang zu Freundschaften hat sich dadurch stark verändert. Ich musste lernen, eine Freundschaft als enge zwischenmenschliche Beziehung wahrzunehmen, in die ich Zeit und Energie investieren muss, in die es Arbeit zu stecken gilt, damit sie funktioniert. So wie ich es traditionell vor allem im Kontext von romantischen Beziehungen kennengelernt habe. Überraschung.

Der Autor (rechts) und sein bester Freund werden oftmals für ein Liebespaar gehalten. Foto: Hannah Horsten

„Red ma drüber“

Ich musste vor allem auch lernen, in meinen Freundschaften richtig zu kommunizieren. Was ich mir von meinen Freund*innen wünsche, welche Bedürfnisse ich in die Freundschaft mitbringe, wo meine Grenzen liegen. Und besonders wichtig: Was mich am Verhalten meines Gegenübers verletzt, traurig, wütend oder auch glücklich macht. Zu oft schon hab ich meine Gefühle einfach hinuntergeschluckt und mich still und heimlich ein paar imaginäre Beziehungsmeter von jemandem distanziert.

Mit dieser Erkenntnis bin ich nicht allein. Auch Anna-Lisa hat aus ihren verletzenden Erfahrungen gelernt: „Egal, wie schwer es wirkt, Kommunikation ist das Allerwichtigste. Es ist nie so schlimm, darüber zu reden, wie darunter zu leiden. Man sollte sich darin üben, zu verzeihen und Veränderungen zu akzeptieren.“

Gerade wenn Menschen frisch verliebt sind und eine neue Paarbeziehung eingehen, rückt das bisherige Umfeld durch die oxytocinbedingte rosarote Brille oft ziemlich in den Hintergrund. Da lohnt es sich besonders darauf zu achten, wie es den Freund*innen eigentlich damit geht, empfiehlt der Soziologe Schobin: „Die meisten Menschen unterschätzen, wie wichtig sie für andere Menschen sind, wie sehr sie gemocht werden. Deshalb sollte man versuchen, sich in die anderen Personen hineinzuversetzen und zu überlegen: wer meiner Freund*innen ist gerade am stärksten auf mich angewiesen?“ 

Enge Freundschaften sind gesund

Wie wichtig es ist, gute und enge Freund*innen zu haben, zeigen zahlreiche Studien. Einer britisch-amerikanischen Langzeitstudie zufolge weisen Menschen mit wenigen, aber dafür engeren Freundschaften ein höheres Wohlbefinden auf.

Meine Gefühlsspanne ist so breit wie das RGB-Farbspektrum, ich habe als Mensch unzählige unterschiedliche Bedürfnisse. Warum sollte mir nur ein einziger Mensch dabei helfen, sie alle zu erfüllen?

Aber nicht jede enge Freundschaft wirkt sich auf die gleiche Art auf unseren Gemütszustand aus. Eine Studie von US-amerikanischen Psycholog*innen hat in diesem Zusammenhang die Rolle von sogenannten „Emotionships“ untersucht. Eine Emotionship ist eine soziale Beziehung, in der die andere Person einen dabei unterstützt, seine Emotionen zu regulieren. Der Studie zufolge geht es jenen Menschen besser, die eine größere Anzahl an verschiedenen Emotionships haben – sprich die sich etwa an eine Person wenden, wenn sie traurig sind und aufgeheitert werden wollen, und an eine andere, wenn sie sich ängstlich fühlen. In der Vergleichsgruppe waren Menschen, die zwar eine ähnliche Anzahl an engen Beziehungen pflegen, aber deren Bedürfnis nach Emotionsregulation nur durch einige wenige Personen, meist die*den Partner*in, erfüllt wird.

Für mich macht das inzwischen sehr viel Sinn. Meine Gefühlsspanne ist so breit wie das RGB-Farbspektrum, ich habe als Mensch unzählige unterschiedliche Bedürfnisse. Warum sollte mir nur ein einziger Mensch dabei helfen, sie alle zu erfüllen? Ich muss nicht die*den perfekte*n Partner*in finden, um glücklich zu sein. Viele gute Freund*innen helfen mir dabei. Oder um es mit den Worten des französischen Psychoanalytikers Saverio Tomasella zu sagen: „Freundschaft ist wie Liebe.“ Und ich liebe meine Freund*innen.

Die Vorherrschaft der Paarbeziehung

Historisch gesehen kommt die oft propagierte romantische Seelenverwandtschaft eigentlich aus dem Freundschaftskontext. Das findet man schon bei Aristoteles: „Freunde sind eine Seele, die in zwei Leibern lebt.“ Diese Erzählung wurde dann auch durch die immer höhere Relevanz der christlichen Ehe auf den romantischen Kontext übertragen, sagt der Soziologe Janosch Schobin. 

Paarbeziehungen waren und sind also womöglich gar nicht per se „wichtiger“ als Freundschaften. Wir bekommen das nur jeden Tag aufs Neue so vermittelt – durch Sitten und Bräuche, durch Filme und Serien, aber auch durch die Politik und ihre Gesetze. Dieses Phänomen nennt sich Amatonormativität. Der Begriff beschreibt die Vorstellung, dass exklusive romantische Beziehungen die gesellschaftliche Norm sind und als Beziehungsform über allen anderen stehen. Eine exklusive romantische und langfristige Beziehung gilt als das ultimative Ziel für ein glückliches und erfülltes Leben.

Für eine mögliche zukünftige romantische Beziehung habe ich mir vorgenommen, regelmäßig bei meinen Freund*innen einzuchecken und nachzufragen, wie es ihnen damit geht und was sie sich von mir wünschen.

Das hängt auch damit zusammen, dass Paarbeziehungen und die Kernfamilie politisch forciert werden und durch die Institution der Ehe rechtlich stark reguliert sind. Mit der Ehe gehen etwa steuerliche Vorteile und rechtliche Absicherung einher, die anderen Beziehungsformen und Freundschaften vorenthalten werden. Für Emilia Roig ein Problem: „Wir nehmen die gesellschaftliche, politische und staatliche Kontrolle über die Sphäre der romantischen Liebe als selbstverständlich an, aber sie ist übergriffig und negiert die Komplexität der Liebe.“

In Deutschland arbeitet die Ampelregierung nach einem Vorstoß der FDP gerade an einem Entwurf für sogenannte Verantwortungsgemeinschaften. Damit soll es laut Koalitionsvertrag auch „jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglicht werden, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen.“

Mit Freundschaften in eine glückliche Zukunft

Der dichte Nebel der Einsamkeit, der mich im Corona-Winter vor drei Jahren begleitet hat, hat sich inzwischen gelichtet. Ich wohne mit drei lieben Menschen zusammen in einer Wohngemeinschaft. Meine Freund*innen zählen neben meinen Geschwistern zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Darüber bin ich sehr glücklich.

Ich habe außerdem begonnen, Monogamie als Beziehungskonzept zu hinterfragen. Eine längere exklusive Paarbeziehung hatte ich seitdem nicht mehr. Für eine mögliche zukünftige romantische Beziehung habe ich mir vorgenommen, regelmäßig bei meinen Freund*innen einzuchecken und nachzufragen, wie es ihnen damit geht und was sie sich von mir wünschen. Das bin ich ihnen schuldig. Und mir auch.

💡
Empfehlung des Autors: Emilia Roig zeigt in ihrem Sachbuch „Das Ende der Ehe“ auf, wie die Institution Ehe maßgeblich patriarchale Strukturen in unser Liebesleben hineinträgt und sie gesellschaftlich einzementiert. Eine neue Perspektive auf die Ehe und unser Zusammenleben.

Autor*in: Emil Biller

Diese Recherche haben die Mitglieder von tag eins ermöglicht. Werde Mitglied, wenn du unabhängigen Journalismus ermöglichen willst.

tag eins bist du.

Nur mit deiner Unterstützung, deinem regelmäßigen Mitgliedsbeitrag, können wir unabhängig recherchieren und sorgfältigen Journalismus machen.

30 Tage kostenlos testen

Das haben wir auch noch für dich: