Europas Grenzpolitik ist die eigentliche Gefahr
In der medialen Debatte um Migrationsbewegungen werden Geflüchtete oft entmenschlicht. Bild: thauwald-pictures / Adobe Stocks
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Vina Yun
Kolumnistin

Europas Grenzpolitik ist die eigentliche Gefahr

Ein populistisches „Spiegel“-Cover, das Menschen auf der Flucht als Bedrohung inszeniert, sorgt für heftige Kritik. Diese Katastrophenrhetorik dient dazu, Abschreckung und Abschottung an den Grenzen gegenüber Geflüchteten als notwendige Maßnahmen zu rechtfertigen.

Immer wieder wird die mediale Berichterstattung über Menschen auf der Flucht von einer Katastrophenrhetorik beherrscht. Dabei kommen insbesondere Begriffe zum Einsatz, die mit schicksalhaften Naturgewalten assoziiert werden: „Strom“, „Welle“, „Flut“, „(An-)Sturm“, „Lawine“ – allesamt Beschreibungen, die Bilder von Gefahr und Zerstörung in unseren Köpfen heraufbeschwören. 

Dass es sich bei den auch bildlich meist als anonyme Masse dargestellten Geflüchteten um Individuen mit unterschiedlichen Biografien und Lebensentwürfen, Handlungswillen und Fähigkeiten handelt, geht in aller Regel verloren. Stattdessen finden eine kollektive Objektivierung und Entmenschlichung statt. ___STEADY_PAYWALL___ In einem Interview mit dem Wissenschaftsportal L.I.S.A. erklärt Manuela Bojadžijev von der Humboldt-Universität in Berlin: „Diskursanalytisch gesprochen handelt es sich um Kollektivsymbole, die sagen möchten, dass hier etwas mit Macht unerwartet und unweigerlich über uns hereinbricht. Sie evozieren ein Bedrohungsgefühl und signalisieren, dass gehandelt werden muss.“ 

Der Migrationsforscherin zufolge klingt hier sprachlich etwas an, was die Politik seit Jahren als zwingende Lösung handelt: die Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen – über rechtliche Mittel in Kombination mit einer militärischen Grenzabwehrlogistik – sowie die gesetzliche Eindämmung von Einwanderung.

Populistische (Sprach-)Bilder

Jüngstes Beispiel für die Inszenierung von Geflüchteten als Gefahr (oder überwältigende Belastung) ist das Cover des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ vom 22. September 2023. Auf dem Titelbild, eingefärbt in warnendes Gelb: eine schier endlose, gesichtslose Karawane an Menschen mit Plastiktaschen, die darauf warten, ein Schiff zu besteigen. Quer über dem Bild prangt in roten Großbuchstaben die Frage: „Schaffen wir das … noch mal?“ Eine reißerische Verkehrung von Angela Merkels bekanntem Ausspruch „Wir schaffen das!“ aus dem Jahr 2015, jenem Jahr, in dem Europa den „langen Sommer der Migration“ erlebte, als Hunderttausende aus den Geflüchtetenlagern in der Türkei und in Jordanien aufbrachen. Laut UNHCR überquerte damals rund eine Million Menschen das Mittelmeer, um in den EU-Staaten Aufnahme zu finden.

Es ist kein Vergleich zu den Zahlen dieses Jahres: Zwischen Jänner und September 2023 kamen rund 186.000 Menschen über die Mittelmeer-Route in Europa an. Und auch in Deutschland sind die Asylanträge seit 2016 deutlich zurückgegangen. (Übrigens müssen ukrainische Geflüchtete in Deutschland und allen anderen EU-Ländern kein reguläres – üblicherweise sehr langwieriges und bürokratisches – Asylverfahren durchlaufen). Man fragt sich also: Was genau gilt es zu schaffen – und wer ist dieses „Wir“?

Metaphern, die töten

Auch wenn in den Beiträgen der betreffenden „Spiegel“-Ausgabe selbst die Perspektiven differenzierter ausfallen – der bedrohliche Eindruck bleibt. Das Coverbild des Magazins basiert auf einem im September entstandenen Foto von Migrant*innen im Hafen von Lampedusa, das jedoch vom „Spiegel“ stark bearbeitet wurde. Die bearbeitete Version gibt nur einen Ausschnitt der Originalaufnahme wieder. „Gezeigt werden Schwarze Menschen von hinten, ein klassisches Motiv der Depersonalisierung“, analysiert die Kommunikationswissenschaftlerin Nadia Zaboura.Das heißt, wir sehen nicht mehr den Menschen, wir sehen nicht, wer da auf der Flucht ist, wir sehen nur noch Massen.“

Es ist nicht das erste Mal, dass „Der Spiegel“ mit einer populistischen Sprach- bzw. Bildpolitik, wie man sie vor allem von rechten Medien kennt, für Kritik sorgt. Letztlich spiegelt diese ein Verständnis wider, wie sie sich auch in der derzeitigen europäischen Flüchtlingspolitik manifestiert – eine Politik mit oft tödlichen Konsequenzen. Schon in den 1990ern brachte der US-amerikanische Linguist George Lakoff die Bedeutung von politischen Sprachbildern und deren Funktion, auf bestimmte Handlungen einzustimmen und diese vorzubereiten, knapp auf den Punkt: „Metaphors can kill.“

Gemeinsame Abschottung

Erst diesen Sommer einigten sich die EU-Mitgliedsstaaten auf die Reform der GEAS, des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Damit soll es u. a. möglich werden, Asylverfahren bereits an den EU-Außengrenzen durchzuführen. In diesem Zusammenhang sind Asylzentren in Grenznähe geplant, wo die Identität und die Aufnahmechancen von Schutzsuchenden überprüft werden – sprich: Menschen, die um Asyl ansuchen, sollen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden. 

Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler*innen kritisieren die Pläne der EU scharf – an den aktuell katastrophalen Zuständen würden sie nichts ändern, stattdessen würde das Asylrecht quasi abgeschafft. „Die EU nimmt mit ihrem aktuellen Kurs der Abschreckung, Abschottung und Auslagerung von Grenzen jeden Tag weitere Tote in Kauf“, formuliert etwa Pro Asyl.

Zehn Jahre nach den Schiffsunglücken vor Lampedusa, bei denen mehr als 600 Menschen ums Leben kamen, sank in der Nacht auf den 14. Juni 2023 vor dem griechischen Küstenort Pylos ein Boot mit mehr als 750 Personen an Bord. Umso zynischer erscheint da ein Magazincover wie das des „Spiegel“ – ist doch die eigentliche Gefahr Europas Grenzpolitik.

Autor*in: Vina Yun

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