Wir sind mitten in einer Diskursverschiebung (nach links)
Statt um Grenzschutz und Migration drehen sich Politdiskussionen auf einmal um Arbeitszeitverkürzung, teure Mieten oder eine Vermögenssteuer. Auf offener Bühne verschiebt sich gerade der Diskurs. Linke wenden dabei eine alte Strategie der FPÖ an.
„Zwei-Drittel-Mehrheit für Vermögenssteuer in Österreich“, „Spanier arbeiten künftig 32 Wochenstunden“, „Extreme Teuerung: Überschuldung in „Mitte der Gesellschaft"“ oder „Österreich bei Kampf gegen Kinderarmut säumig“. Einige österreichische Medien sind derzeit nicht wiederzuerkennen. Statt über „die Ausländer*innen“ und Migration wird in TV-Runden und Zeitungen über den Mindestlohn, zu hohe Mieten, die Vermögenssteuer oder eine Arbeitszeitverkürzung ausführlich diskutiert und berichtet. Der Machtkampf innerhalb der SPÖ sowie das unerwartet gute Abschneiden der KPÖ Plus in Salzburg haben zusätzlichen Raum für diese Themen eröffnet. Stammtische, Pausenhöfe, Spazier- und Kirchgänger*innen haben neuen Gesprächsstoff.
Jahrzehntelang bestimmten zwei großen Narrative den öffentlichen Diskurs: Zum Ersten, die neuliberale Maxime von Sparen, keine Schulden und Rationalisierung. Debatten über Einsparungen in der staatlichen Verwaltung, im Gesundheitssystem (etwa weniger Krankenhausbetten) oder dem Pensionssystem (etwa über ein höheres Pensionseintrittsalter) flackerten in den Medien immer wieder auf. Der Frame dahinter: Die Gesellschaft lebe auf zu großem Fuß. Zum Zweiten, die rechte Erzählung von kultureller Reinheit, den negativen Auswirkungen der Zuwanderung und der Notwendigkeit von Grenzschutz. "Wir müssen uns schützen", lautet der Frame den rechte Akteur*innen propagieren. Linke Bewegungen waren in beiden Diskursen in einer Abwehrposition. Nun - so scheint es zumindest - prägen (auch) wieder linke Ideen offensiv die Debatte. Wie ist das passiert?
Verteilungsfrage virulent
Dass klassisch linke Themen wieder auf dem Tisch sind, hat aber nicht nur mit den Parteien selbst zu tun. „Die Themenlagen und Diskurse haben sich in jüngster Zeit, aber auch schon in den letzten Jahren verändert", sagt der Politikwissenschafter Andreas Holzer dazu. „Die soziale Frage beziehungsweise Verteilungsfrage ist unter anderem durch die Teuerung virulenter geworden.“ Holzer verweist auf die jüngsten Landtagswahlen in Niederösterreich, Kärnten und Salzburg. Das mit Abstand meistdiskutierte Thema vor den Wahlen waren „Inflation und steigende Preise“, wie die Wahltagsbefragungen von Sora/ISA gezeigt haben. In Salzburg kamen noch „leistbares Wohnen“ und „Gesundheitsversorgung und Pflege“ dazu.
Bei den Nationalratswahlen 2017 hingegen bestimmte „Zuwanderung und Integration“ den Wahlkampf. Themen, die auch bei den Landtagswahlen in Niederösterreich und Kärnten eine Rolle spielten, aber erst mit deutlichem Abstand hinter der Teuerung.
Wettkampf der Themen
Für die Sprachwissenschaftlerin und Diskursforscherin Ruth Wodak steht fest, dass es aktuell eine Themenverschiebung gibt. „Der hegemoniale Diskurs, das Agenda-Setting durch FPÖ und ÖVP, ist etwas gebrochen“, sagt sie zu tag eins. „Es gibt jetzt sozusagen einen Wettkampf zwischen diesen Themen und damit auch den Diskursen. Ob es tatsächlich zu einer Diskursverschiebung kommen wird, wird sich erst längerfristig zeigen.“
Befeuert werden diese sozialen Themen durch das aktuelle Rittern um den SPÖ-Vorsitz. Seit Wochen haben SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil und der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler die mediale Aufmerksamkeit gepachtet. Mit dem unerwarteten Antreten von Babler kamen auch neue Themen in den öffentlichen Diskurs. Etwa die Kinderarmut in Österreich und die Forderung nach einer Verringerung der Arbeitszeit, aber auch andere Positionen zu Migration, die Babler mit dem Satz „Kein Mensch ist illegal“ herleitet.
Schraube dreht sich jetzt nach links
Wie funktioniert diese Diskursverschiebung?___STEADY_PAYWALL___ „Man sieht, dass es gar keine Hexerei ist und gar nicht viel braucht“, sagt die Politikwissenschaftlerin und Buchautorin Natascha Strobl, die Babler unterstützt. Sie „funktioniert, weil mehrere Faktoren zusammenkommen: Aufmerksamkeit für diese interne Wahl und weil eine neue Person dazu kommt, die einen anderen Kommunikationsstil pflegt – direkter, kompromissloser.“ So werden Gegner*innen auf den Plan gerufen, reagieren, und schon läuft die Diskussion. „Die Chance, dass die minimalsten sozialen Forderungen umgesetzt werden, sorgt bei den ‚Richtigen‘ für Entsetzen, so dass sich die Schraube immer weiter dreht und so weiter darüber geredet wird“, erklärt Strobl. Mit den „Richtigen“ sind Vertreter*innen von ÖVP oder FPÖ sowie konservative und liberale Journalist*innen auf Twitter gemeint, die in ihrer Empörung die Diskussion aufflackern lassen.
Und: Auf diesen Mechanismus würden auch rechte Parteien und Gruppierungen setzen, „nur halt mit anderen Themen“. Frei nach dem Motto: Es ist egal, was du sagst, wichtig ist nur, dass sich jemand darüber aufregt.
ÖVP: Staying on message
Politiker*innen der ÖVP dürften das anders sehen. Dies erklärt auch die Verluste der ÖVP bei den Landtagswahlen, sagt der Meinungsforscher Holzer. Zur Erinnerung: in Niederösterreich empörte sich Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner im Wahlkampf über die Europäische Menschenrechtskonvention, diese würde „Rückführungen“ von Geflüchteten erschweren. In der Konvention ist das Verbot der Kollektivausweisung festgeschrieben. Das betrifft sogenannte Push-Backs, die Zurückschiebung von Geflüchteten ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder dessen Rechtmäßigkeit gerichtlich überprüfen zu lassen.
Besonders die Bundes-ÖVP setzt weiterhin hauptsächlich auf jene Strategie, die sie sich vor einigen Jahren von der FPÖ abgeschaut hat: Egal, was das Thema ist, irgendwie einen Zusammenhang zu Ausländer*innen, Migrant*innen oder Flüchtlingen herstellen und mit Forderungen verknüpfen, egal ob diese auch umsetzbar sind. Hauptsache, Medien berichten darüber oder es wird zumindest in den sozialen Medien debattiert.
Nach diesem Drehbuch lief auch die letzte Auslandsreise von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ab. Als er eine Hundeschule in Ghana besuchte, redete er von Grenzschutz. Bei seinem Treffen mit dem ägyptischen Staatschef Abdelfattah al-Sisi „wurde über eine Kooperation bei Migrationsfragen geredet“. Die einstige Wirtschafts- und Bauernpartei ist eine Anti-Migrations-Partei geworden.
Strategiewechsel bei der FPÖ
Nach diesem Schema macht die FPÖ seit Jahrzehnten Politik. Allerdings hat sie ihre Strategie geändert. Sie präsentiert sich als Partei, die – vereinfacht gesagt – zu allem und jedem etwas zu sagen hat. Also eine Partei, die sich an jedem Diskurs beteiligen kann. Damit gibt sie sich regierungsfähig und würde – zumindest nach derzeitigen Sonntagsfragen – Parlamentswahlen gewinnen.
Eingeleitet hat diese Strategieänderung Herbert Kickl, nachdem er die Partei im Jahr 2019 übernommen hat. So will der FPÖ-Chef den Kritiker*innen den Wind aus den Segeln nehmen, die der Partei die Regierungsfähigkeit absprechen. Kickl setzt vollends darauf, seine Botschaften zu verbreiten. Dafür hat er in den vergangenen Jahren die Pressearbeit seiner Partei neu aufgestellt. Anders als unter seinem Vorgänger bekommen Journalist*innen nun selbst auf kritische Anfragen Antworten, täglich gibt es mehrere Presseaussendungen, dazu kommen Pressekonferenzen, Interviews und TV-Auftritte. Keine andere Partei liefert derart viele Inhalte wie die FPÖ. Passend werden Videoaufzeichnungen von den Pressekonferenzen Medien kostenlos zur Verfügung gestellt.
So ist es der FPÖ gelungen, als Stimme bei vielen Themen wahrgenommen zu werden. Die Message: Ob Medikamentenmangel, Vermögenssteuern oder Korruption, die Freiheitlichen beteiligen sich am Diskurs.
Kalkulierte Grenzüberschreitung
Um sich von der ÖVP zu unterscheiden, werden beim Kernthema der Freiheitlichen immer wieder Grenzen des Sagbaren überschritten. Dann werden Schüler*innen vor laufenden TV-Kameras rassistisch beleidigt, wie es im niederösterreichischen Wahlkampf der nunmehrige Zweite Landtagspräsident Gottfried Waldhäusl gemacht hat. Das garantiert maximale Aufmerksamkeit und verdeutlicht, wie sich FPÖ und ÖVP unterscheiden.
Bei den derzeit gefragten Themen Inflation und Teuerung positioniert sich die Partei wie seit Jahrzehnten: sie spricht sich, mit Verweis auf die Teuerung, gegen eine sogenannte Millionärssteuer aus. Sie fordert mehr sozialen Wohnbau, verknüpft dies mit der rassistischen Forderung, dass diese „Wohnungen vorrangig an Österreicher zugewiesen werden“ sollen, damit „keine Ghettos entstehen, in denen die eigenen Leute nicht mehr sicher wohnen können“, wie es die Kärntner FPÖ in einer Aussendung formulierte. Damit bedient sie ihre Klientel und versucht, die aktuelle Themenlage für sich zu nutzen.
Ob soziale Themen weiterhin eine so starke Rolle im öffentlichen Diskurs spielen werden, kann der Politikwissenschafter Holzer nicht einfach bejahen. „Welche Themen in Zukunft den Diskurs dominieren, hängt von vielen Faktoren ab und ist so nicht prognostizierbar. Von der Logik her bleiben soziale Fragen und Verteilungsthemen brennend, weil immer mehr Menschen auch aus den mittleren Einkommensgruppen von Teuerung und zunehmendem Druck betroffen sind.“
Dazu kommt, dass bestimmte neoliberale Diskurse, die einen Rückbau des Sozialstaates fordern, wohl ausgedient haben: „Corona hat zum Beispiel gezeigt, wie wichtig ein gutes Gesundheitssystem und ein gut ausgebauter Sozialstaat ist. Forderungen nach Rückbau sind weniger glaubwürdig und schwerer durchsetzbar."
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