Niemand war zu Recht im KZ
Der Deutsche Bundestag hat 2020 endlich die sogenannten “Berufsverbrecher” und “Asozialen” als offizielle Opfergruppe im Nationalsozialismus anerkannt. In Österreich steht das nicht zur Debatte.
Für die Nationalsozialisten reichten Alkoholsucht oder Obdachlosigkeit, Prostitution oder eine Abtreibung: Gnadenlos sortierten sie all jene Menschen aus, die in ihren Augen als “minderwertig” und “gemeinschaftsunfähig” galten. Sie wurden als “Asoziale” oder “Berufsverbrecher” stigmatisiert, in Konzentrationslager (KZ) gesperrt und der “Vernichtung durch Arbeit” ausgeliefert. Bis heute sind sogenannte “Berufsverbrecher” in Österreich nicht als offizielle Opfergruppe anerkannt.
Schätzungen zufolge wurden rund 70.000 Menschen vom NS-Regime als “Berufsverbrecher” oder “Asoziale” in Konzentrationslagern inhaftiert. Auch im oberösterreichischen KZ Mauthausen. Sie mussten als Erkennungszeichen auf der linken Brustseite ihrer Häftlingskleidung einen grünen (“Berufsverbrecher”) oder einen schwarzen Winkel (“Asoziale”) tragen.
“Kriminelle Gene”
Die Nationalsozialisten nahmen vergangene Haftstrafen (zum Beispiel wegen Lebensmitteldiebstahls, Einbruchs, Gewaltdelikten, Abtreibung oder – tatsächlicher oder vermuteter – Zuhälterei oder des Vorwurfs der Prostitution) zum Anlass, sie zu internieren und zu ermorden. Nach der Verbüßung der Haftstrafe wurden sie ohne weiteres Strafverfahren in die Konzentrationslager deportiert. “Vorbeugehaft”, nannten die Nationalsozialisten das. Die Männer und Frauen wurden von ihnen als “Ballastexistenzen” bezeichnet, die ein “kriminelles Gen” in sich tragen würden.
Hauptsächlich waren es Personen, die wegen Diebstahls oder Einbruchs verurteilt worden waren, sagt der Soziologe Andreas Kranebitter, der in wenigen Wochen die wissenschaftliche Leitung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) übernehmen wird. Kranebitter gehört zu einer Gruppe von Wissenschaftler*innen, die sich vor wenigen Jahren dem Thema an- und Forschungen aufgenommen haben. Keine einfache Aufgabe, da die meisten Überlebenden dieser Opfergruppen in aller Regel nach 1945 schwiegen, weder Autobiografien verfassten noch öffentlich auftraten. In der Nachkriegsgesellschaft gab es keine Organisationen, die sich für ihre Interessen einsetzten. Viele andere Gefangene gingen auf Distanz.
Späte Anerkennung als Opfer in Deutschland
Gemeinsam mit Frank Nonnenmacher, dessen Onkel Ernst Nonnenmacher als “Berufsverbrecher” ins KZ verschleppt wurde, haben Kranebitter, die Berliner Wissenschaftlerin Dagmar Lieske, Julia Hörath vom Hamburger Institut für Sozialforschung, die Politikwissenschaftlerin und Buchautorin Sylvia Köchl und andere eine Petition gestartet, die dafür sorgte, dass der deutsche Bundestag mit breiter Mehrheit die Gruppe der “Asozialen” und “Berufsverbrecher” im Jahr 2020 als Opfer der Nationalsozialisten anerkannte. Als einer der ersten Autor*innen hat Köchl das Schicksal von „Berufsverbrecherinnen" recherchiert.
In ihrem Buch "Das Bedürfnis nach gerechter Sühne" zeichnet sie das Schicksal von acht Frauen nach - Diebinnen und Abtreiberinnen -, die von Österreich nach Ravensbrück deportiert wurden, wo sich das größte Konzentrationslager für Frauen im "Deutschen Reich" befand.
In Österreich haben zuletzt die Grünen das Thema im Jahr 2020 in einer Presseaussendung aufgegriffen und gefordert, Österreich solle dem Bundestag “so rasch wie möglich folgen und den Wenigen, die noch leben und ihren Angehörigen diese Anerkennung ermöglichen.” Seither ist wenig passiert.
Shoa-Überlebende bekamen vor Gericht Recht
Viele der Überlebenden hielten sich nach 1945 aus Scham zurück. “Asozialer” ist heute noch immer ein gängiges Schimpfwort, auch wurden die “KZler” im Nachkriegsösterreich von vielen Menschen eher argwöhnisch betrachtet. Oftmals schwang vorwurfsvoll mit, sie wären zu Recht im KZ eingesperrt gewesen. Die Propaganda der Nationalsozialisten hatte sich verfestigt.
Eine Erzählung, die auch in der (mittlerweile eingestellten) rechtsextremen Zeitschrift “Aula” zu lesen war. In zwei Artikeln 2015 und 2016 wurden aus dem KZ Mauthausen befreite Häftlinge unter anderem als “Kriminelle”, “ Massenmörder” und “Landplage”, die “raubend und plündernd, mordend und schändend” durch das Land gezogen seien, bezeichnet.
Dagegen zogen zehn Shoa-Überlebende vor Gericht. Ihrer Klage ging eine Strafanzeige der Grünen voran, die jedoch von der Staatsanwaltschaft Graz eingestellt wurde – mit einer Begründung, die über Österreich hinaus für Entsetzen sorgte: Darin hieß es, es sei nachvollziehbar gewesen, dass sich die österreichische Bevölkerung 1945 von den befreiten KZ-Häftlingen belästigt gefühlt habe. Aufgrund der Zivilklage der Überlebenden musste die Aula ihre diffamierenden Passagen schließlich widerrufen. Der Oberste Gerichtshof (OGH) hob 2021 auch noch zwei medienrechtliche Urteile des Landesgerichts Graz zugunsten der “Aula” auf. Diese waren “rechtsfehlerhaft” urteilte der OGH.
Neben der Unterstellung, sie wären als Verbrecher “zu Recht” im KZ gewesen, hatten die Trägerinnen und Träger von grünen Winkeln auch noch mit dem Vorwurf zu kämpfen, viele von ihnen seien der verlängerte Arm der Lagerleitung gewesen, sogenannte “Kapos”. Ihre offizielle Bezeichnung lautete “Funktionshäftlinge”. “ Kapos” mussten andere Häftlinge beaufsichtigten und dafür sorgen, dass diese die Arbeitsvorgaben erhielten. Dabei gehörten Übergriffe oftmals zur Tagesordnung. Die in den Konzentrationslagern herrschende SS spielte Häftlingsgruppen gezielt gegeneinander aus. Im Gegenzug bekamen “Kapos” dafür Vergünstigungen, wie eine bessere Nahrungszuteilung, und konnten so ihre Überlebenschance verlängern. Andere KZ-Häftlinge hassten die “Kapos” dafür.
Sogenannte „Berufsverbrecher“ wurden jedoch zu Unrecht als “Kapos” der Lager identifiziert. Auch andere NS-Verfolgte wurden in dieser Funktion eingesetzt. Sie wurden ebenso wie ihre Mithäftlinge in großer Zahl ermordet. 40 Prozent der in Mauthausen Internierten aus der Gruppe der “Berufsverbrecher” starben dort, sagt Kranebitter.
Offizielle Anerkennung fehlt
Bis heute wird diese Gruppe nicht als Opfer des mörderischen Terrors der Nationalsozialisten anerkannt. Hilfe für die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus gab es in Österreich zunächst nur für Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer. Alle anderen wurden nicht mit Unterstützung bedacht und außer Acht gelassen. Erst 1947, im zweiten Opferfürsorgegesetz, wurden auch Fürsorgemaßnahmen für Opfer rassischer Verfolgung vorgesehen, also hauptsächlich Jüdinnen und Juden. Eine Opferrente bekamen aber allgemein nur österreichische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und nicht diejenigen, die in andere Länder vertrieben wurden. Erst nach und nach wurden die einzelnen Opfergruppen bedacht und es dauerte bis Mitte der 1990er-Jahre, bis etwa Roma und Sinti oder Homosexuelle als Opfer des Nationalsozialismus überhaupt anerkannt wurden.
Das Opferfürsorgegesetz listet auf: “Als Opfer der politischen Verfolgung sind Personen anzusehen, die in der Zeit vom 6. März 1933 bis zum 9. Mai 1945 aus politischen Gründen, als Opfer der NS-Militärjustiz, aus Gründen der Abstammung, Religion, Nationalität oder im Rahmen typisch nationalsozialistischer Verfolgung, auf Grund einer körperlichen oder geistigen Behinderung, der sexuellen Orientierung, des Vorwurfs der so genannten Asozialität oder medizinischer Versuche durch Maßnahmen eines Gerichtes, einer Verwaltungs- (im Besonderen einer Staatspolizei- ) Behörde oder durch Eingriffe der NSDAP einschließlich ihrer Gliederungen in erheblichem Ausmaß zu Schaden gekommen sind.” Aktuell bekommen rund 400 Personen eine solche bescheidene Rente.
Tilgung aus dem Vorstrafenregister ausständig
Es ist unklar, wie viele Menschen noch leben, die von den Nazis als “Berufsverbrecher” in ein KZ verschleppt wurden. Laut dem zuständigen Sozialministerium können sie eine Opferrente beantragen. “Das Vorliegen der geltend gemachten Verfolgungstatbestände wird vom Sozialministerium einer eingehenden Prüfung unterzogen”, heißt es dazu. Die Ansprüche gelten auch für Personen, die “wegen einer oder mehrerer gerichtlich strafbarer Handlungen zu einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurden” und deren “Verurteilung im Zeitpunkt der Antragstellung nicht getilgt ist”. Die nicht getilgten Vorstrafen verhindern jedoch, dass Betroffene eine Entschädigung bekommen. Während für Homosexuelle das Vorstrafenregister getilgt wurde, scheinen gewöhnliche Straftaten nach wie vor auf. Hier wäre die Regierung am Zug.
Ob Betroffene eine Entschädigung bekommen haben, kann das Ministerium nicht sagen: “Die Frage wie viele Anträge es im Zusammenhang mit ‚Berufsverbrechern‘ beziehungsweise dem Vorwurf, ein solcher zu sein, gibt, können wir auf Grundlage, der uns dazu bisher zur Verfügung gestellten Informationen und der fehlenden Definition des Begriffes leider nicht beantworten. Die genaue Anzahl der Anträge und der positiven Erledigungen der einzelnen Personengruppen wird statistisch nicht erhoben.” Es wird jedoch betont, dass bei den sogenannten “Asozialen” “fast alle Fälle positiv erledigt” wurden.
Seitens des Nationalfonds der Republik Österreich, der 1995 gegründet wurde, um die besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus zum Ausdruck zu bringen, heißt es dazu auf Anfrage: “Personen, die im Nationalsozialismus als ‚asozial‘ oder als ‚Berufsverbrecher‘ verfolgt wurden, werden vom Nationalfonds im Einzelfall ebenfalls als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.” Auch stehe die Tatsache, dass “Personen im Nationalsozialismus als sogenannte Berufsverbrecher klassifiziert wurden, ihrer Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus durch den Nationalfonds grundsätzlich nicht im Wege”, heißt es dazu.
Warum eine offizielle Anerkennung trotzdem wichtig wäre
Was aber würde eine offizielle Anerkennung – wie in Deutschland – bedeuten? Die offizielle Anerkennung würde zum einen festhalten, dass niemand zu Recht in einem Konzentrationslager war – auch wenn diese Menschen Straftaten begangen haben, die auch nach heutigem Verständnis Verbrechen sind. Das Unrecht würde benannt werden. Und zum anderen würde es die offizielle Anerkennung ihnen und ihren Nachkommen und Verwandten erleichtern, darüber zu reden und so das Schweigen zu brechen.