Der schwierige Weg zum Schwangerschaftsabbruch
Der Gynäkologe Philipp Reif zeigt die Abtreibungspille Mifegyne.
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Sophie Aster, Marie Essert, Barbara Veit
Reporterinnen

Der schwierige Weg zum Schwangerschaftsabbruch

Seit 2020 dürfen niedergelassene Gynäkolog*innen in Österreich medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Wie viele das aber wirklich tun, weiß niemand. Eine tag-eins-Umfrage liefert erste Zahlen – und ein paar Hinweise darauf, was die Versorgungslage verbessern könnte.

Philipp Reif musste nicht lange darüber nachdenken, ob er Schwangerschaftsabbrüche anbieten will. „Jede Frau sollte das Recht dazu haben, einen Abbruch durchzuführen“, findet er – nicht nur in einer anonymen Klinik, sondern auch in der gynäkologischen Praxis ihres Vertrauens. Seit Mitte 2020 ist das in Österreich rechtlich möglich, seither dürfen alle rund 2.000 niedergelassenen Gynäkolog*innen des Landes medikamentöse Abtreibungen anbieten. Aber immer noch kann es für ungewollt schwangere Menschen schwierig sein, eine Möglichkeit zum Abbruch in der Nähe ihres Wohnortes zu finden.

Suchspiel Schwangerschaftsabbruch

Fragt man bei den Ärztekammern der Bundesländer, der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung und der Österreichischen Gesundheitskasse nach einer Liste der Kliniken und der niedergelassenen Ärzt*innen, die Abbrüche anbieten, wird man von einer Institution zur anderen geschickt und erfährt am Ende: Eine solche Liste gibt es nicht. Wer in Österreich die nächstgelegene Möglichkeit für einen Abbruch sucht, kann sich also nicht einfach auf einer Website informieren. Auch eine offizielle Statistik, wie viele Gynäkolog*innen Abbrüche durchführen, existiert nicht.

tag eins hat daher letztes Jahr eine Umfrage direkt an 650 niedergelassene Gynäkolog*innen in Österreich geschickt, deren E-Mail-Adressen öffentlich auffindbar waren, und 102 Antworten erhalten. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, möglicherweise waren Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen, eher gewillt zu antworten. Dennoch gaben von den 102 Gynäkolog*innen nur 26 an, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Davon erklärten nur neun, das auch öffentlich zu kommunizieren. Von den anderen 76 lehnen längst nicht alle Abtreibungen grundsätzlich ab, zumindest den Erklärungen im Freitextfeld zufolge. Warum bieten sie trotzdem keine an? Warum kommunizieren so viele Ärzt*innen nicht, dass sie Abbrüche durchführen? Und was müsste passieren, damit ungewollt Schwangere ihre Schwangerschaft ohne lange Odyssee beenden können?

Salbeigrüne Wände, altrosa Vorhänge, farblich abgestimmte Sessel – der Raum gleicht einem Hipstercafé. Doch spätestens, wenn der Blick auf den Infoscreen rechts vom Eingang fällt, ist klar: Hier handelt es sich um den Warteraum einer gynäkologischen Praxis. Auf dem Bildschirm erscheinen Informationen zu Teenagersprechstunden, Vorsorgeuntersuchungen oder Hebammenbetreuung. Wie es bei Gynäkolog*innen eben so üblich ist.

Wartet man noch ein bisschen länger, taucht darauf jedoch eine Leistung auf, die längst nicht bei allen Gynäkolog*innen zu finden ist: Schwangerschaftsabbrüche.

In der gynäkologischen Praxis von Philipp Reif. Foto: Marie Essert
In der gynäkologischen Praxis von Philipp Reif. Foto: Marie Essert

Ein Zulassungsbescheid als große Erleichterung

Philipp Reif, der Besitzer dieser Grazer Praxis, ist Anfang 40, trägt einen Dreitagebart und die langen Haare zu einem Knoten gebunden. Er ist einer der wenigen Umfrageteilnehmer*innen, die bereit waren, öffentlich und unter ihrem vollen Namen über ihre Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen zu reden. Bis 2021 war er stellvertretender Leiter der Abteilung für Geburtshilfe der Universitätsfrauenklinik Graz und arbeitete nebenbei in der Ordination seines Vaters mit, seit dessen Pensionierung verbringt er all seine Arbeitstage dort.

Schon im Krankenhaus hat Reif Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt, sowohl operative als auch medikamentöse. Die „Abtreibungspille“ Mifegyne sei eine gute und sichere Alternative zu einem operativen Eingriff im Krankenhaus, sagt der Vater von vier Kindern.

Bis vor wenigen Jahren durften in Österreich nur Kliniken Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Wer einen Abbruch wollte, musste zu einer der rund 30 im Internet auffindbaren Kliniken des Landes fahren. In vielen Fällen bedeutete das weite Wege und ein unbekanntes Umfeld.

Infokasten:
  • Methoden des Schwangerschaftsabbruchs
    Eine Schwangerschaft kann man auf zwei Wegen abbrechen: durch eine Operation (bis zum Beginn der 16. Schwangerschaftswoche) oder durch die Einnahme des Medikaments Mifegyne (bis zur neunten Woche). Die Tablette bewirkt, dass sich die Gebärmutterschleimhaut ablöst und der Embryo abstirbt. Etwa zwei Tage später werden mithilfe eines weiteren Medikaments Wehen ausgelöst, und der Embryo wird ausgestoßen.

Im Juli 2020 änderte das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) den Zulassungsbescheid für die „Abtreibungspille“ Mifegyne. Von nun an durfte sie auch von niedergelassenen Gynäkolog*innen verschrieben werden. Dass sie sich dadurch den Weg zur Abtreibungsklinik ersparen können, sei für viele ungewollt Schwangere eine große Erleichterung, sagt Philipp Reif.

Gynäkologe Philipp Reif im Interview in seiner Praxis.
„Es ist ein Strukturproblem“, sagt Philipp Reif. Viele, vor allem christliche, Klinikbetreiber*innen seien nicht bereit, Abbrüche anzubieten, „und viele Gynäkolog*innen sind jetzt schon mit ihrer Kapazität am Limit, sodass sie reflexartig Nein zu der Leistung sagen.“

Versprechen und Realität

Ähnlich wie die von Reif klingen auch die Beweggründe der anderen 25 niedergelassenen Gynäkolog*innen, die in der tag eins-Umfrage angaben, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Mehrere von ihnen erklären im Freitextfeld, ihnen sei ein einfacher, niederschwelliger Zugang zu der Leistung und eine gute örtliche Erreichbarkeit wichtig. Andere geben grundsätzlichere Antworten: „das Recht der Frau auf ihre Entscheidung“, „die Gesundheit meiner Patientinnen“, „das Selbstbestimmungsrecht der Frau“, „gehört zu unserem Fach dazu“, „weil ich es richtig finde“ oder schlicht: „Warum nicht?“

Wie prekär der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zumindest in manchen Regionen Österreichs ist, zeigt das Beispiel von Hans Joachim Wolf. Er ist die einzige Person, die man findet, wenn man im Internet Ärzt*innen in Tirol sucht, die Abbrüche anbieten. Um die Versorgung in Tirol zu sichern, nehme er nie mehr als eine Woche Urlaub am Stück und führe „ein risikominimiertes Leben“, sagt er. Statt im Paragleiten oder Klettern übe er sich in seiner Freizeit im Golfen. Die „katastrophale Versorgungslage“ in Tirol habe ihn vor über 20 Jahren dazu bewegt, sich auf Schwangerschaftsabbrüche zu spezialisieren. Mittlerweile ist er Anfang 60 und führt pro Jahr nach eigenen Angaben circa 900 Schwangerschaftsabbrüche an Patient*innen aus ganz Österreich, Deutschland und Italien durch.

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  • Die Gesetzeslage
    Eigentlich sind Schwangerschaftsabbrüche in Österreich illegal. „Wer mit Einwilligung der Schwangeren deren Schwangerschaft abbricht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr [...], begeht er die Tat gewerbsmäßig, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen“, heißt es in Paragraph 96 des österreichischen Strafgesetzbuches. Seit dem Jahr 1975 gilt aber auch Paragraph 97, die sogenannte Fristenlösung: Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten drei Monate sind straffrei. Ebenso spätere Abbrüche, wenn die Gesundheit der schwangeren Person durch die Schwangerschaft in Gefahr ist, sie zum Zeitpunkt der Empfängnis noch keine 14 Jahre alt war oder das Kind „geistig oder körperlich schwer geschädigt“ ist.

„Ich bin nicht Ärztin geworden, um zu töten“

Die tag eins-Umfrage zeigt, dass Wolf nicht mehr der einzige abtreibende Arzt in Tirol ist. Zwei weitere Gynäkologinnen im Bundesland haben im Fragebogen ihr Kreuzchen bei „Ja“ gesetzt. „Ich möchte meinen Patientinnen den Weg nach Innsbruck oder Salzburg ersparen“ und “Erleichterung des Zugangs für meine Patientinnen ohne Stigmatisierung”, lauten ihre Begründungen. Aber keine der beiden kommuniziert das Angebot öffentlich. Sie wolle die Leistung ihren eigenen Patient*innen anbieten, aber keine anderen damit anziehen, erklärt die eine diese Entscheidung. „Möchte keine Promo dafür machen“, schreibt die andere.

Solche und ähnliche Antworten gibt rund die Hälfte der 17 abtreibenden Gynäkolog*innen, die ihre Leistung nicht öffentlich kommunizieren. Aber auch die Sorge, damit „Negativwerbung“ für die eigene Praxis zu machen, und die „Angst vor aggressiven Abtreibungsgegnern“ werden als Gründe genannt.

Die Angst vor Angriffen von Abtreibungsgegner*innen oder davor, als „Abtreibungsärzt*in“ abgestempelt zu werden, ist für manche andere Befragte Grund Nummer eins, Schwangerschaftsabbrüche gleich gar nicht anzubieten. So berichtet ein Tiroler Gynäkologe von einer „möglichen sozialen Ächtung im ländlichen Bereich (auch von der Familie)“. Eine Oberösterreicherin schreibt: „Kleiner Ort, jeder kennt jeden, wäre schwierig.“

Der Großteil der Umfrageteilnehmer*innen, die keine Schwangerschaftsabbrüche anbieten, verweist aber auf private, ethische oder religiöse Gründe. „Ich begrüße sowohl die Entscheidungsfreiheit der Frau, abtreiben zu lassen, als auch die Entscheidungsfreiheit des Arztes, nicht abtreiben zu müssen“, formuliert ein Tiroler Arzt, „mein Zugang zur Medizin ist der größtmögliche Schutz jeglichen, auch ungeborenen Lebens“, erklärt ein Oberösterreicher, und eine Wienerin schreibt: „Bin nicht Ärztin geworden, um zu töten“.

Ein weiterer häufig genannter Themenkomplex: Man habe zu wenig Routine, Abbrüche gehörten in spezialisierte Hände. Sie in einer Ordination ohne Operationssaal durchzuführen, sei zu gefährlich. Auch Philipp Reif hält es für sinnvoll, wenn sich in nicht allzu großer Ferne eine Klinik als Back-up befindet – aber er betont auch, dass Mifegyne „ein hocheffektives Medikament ist, mit einer sehr guten Erfolgsrate.“ Laut dem deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte liegt sie bei 95 Prozent. Auch gröbere Komplikationen nach einer Abtreibung mit Mifegyne sind selten: Einer Analyse von Daten zu 55.000 Abtreibungen in Kalifornien zufolge kam es innerhalb von sechs Wochen bei 0,31 Prozent aller medikamentösen Abbrüche zu schweren Komplikationen.

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  • Die Versorgungslage in Österreich
    Im Jahr 2017 beschloss die ÖVP-FPÖ-Regierung den „Aktionsplan Frauengesundheit“. Maßnahme 27 dieses Aktionsplans besagt, dass „Frauen in selbstbestimmter Sexualität unterstützt sowie die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch in allen Bundesländern gesichert“ werden soll. Zu diesem Zweck solle auch „in allen öffentlichen Schwerpunkt-Krankenhäusern die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs“ gegeben sein. Sechs Jahre später ist diese Ankündigung noch immer nicht umgesetzt: In Vorarlberg, Tirol und dem Burgenland bietet weiterhin kein einziges öffentliches Krankenhaus Abbrüche an. „Der Ausbau der Versorgung für ein flächendeckendes und leistbares Angebot“ sei „ein wichtiges frauengesundheitspolitisches Ziel”, schreibt eine Sprecherin von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) auf Anfrage von tag eins. Aber, ja: Es gebe derzeit „in vielen Bundesländern zu wenig Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte und Ärztinnen, die einen Abbruch durchführen.“

Vier Befragte geben an, sie seien nebenbei in (christlichen) Krankenhäusern angestellt, deren Dienstverträge oder interne Vorgaben es ihnen untersagten, Abtreibungen durchzuführen. Andere nennen praktische oder organisatorische Gründe: „zu aufwändig“, „keine Einrichtung dafür“, „wir sind ein Kinderwunschzentrum“, „gerade erst begonnen mit Ordination, frisch nach Mutterschutz, gerade gut ausgelastet“. Eine Ärztin schreibt: „Ich bin selber ungewollt kinderlos (4x künstliche Befruchtung ohne Erfolg) und sehe mich selbst nicht imstande solche Eingriffe durchzuführen.“

Was also müsste passieren, damit mehr Ärzt*innen Abbrüche anbieten und ungewollt Schwangere in Österreich keine langen Odysseen mehr bewältigen müssen?

Mehr Anreize, mehr Ausbildung, weniger Stigma

„Es ist ein Strukturproblem“, sagt Philipp Reif. Viele, vor allem christliche, Klinikbetreiber*innen seien nicht bereit, Abbrüche anzubieten, „und viele Gynäkolog*innen sind jetzt schon mit ihrer Kapazität am Limit, sodass sie reflexartig Nein zu der Leistung sagen.“ Der Staat müsse daher Anreize schaffen, sagt Reif, zum Beispiel durch zusätzliche Honorare oder Urlaubstage für Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen.

Mehrere Ärzt*innen, mit denen tag eins gesprochen hat, sehen außerdem Verbesserungspotential bei der Ausbildung von Gynäkolog*innen. Laut dem gemeinsamen Klinischen Lernzielkatalog der vier staatlichen österreichischen Medizinfakultäten in Wien, Graz, Linz und Innsbruck sollen Medizinstudierenden zwar zumindest „grundlegende, theoretische Kenntnisse“ des Schwangerschaftsabbruchs vermittelt werden. Aber in der Realität, sagen die Ärzt*innen, werde das Thema im Medizinstudium und in der Facharztausbildung, je nach Dozent*in, höchstens am Rande gestreift. „Es gibt zwar immer mehr Vorträge und Workshops zu medikamentösen und operativen Abtreibungen, aber es braucht definitiv die Eigeninitiative der Ärzt*innen”, sagt eine Gynäkologin aus Niederösterreich.

Philipp Reif wünscht sich, dass neben dem Eingriff selbst auch der gesellschaftliche Umgang damit im Studium behandelt wird: „Da geht es darum, welche Grundeinstellung man dazu hat und wie man das Thema enttabuisieren kann.“

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  • Die Kosten eines Abbruchs
    Für Betroffene kann ein Schwangerschaftsabbruch eine große finanzielle Belastung sein. Ärzt*innen und Kliniken verrechnen für den Eingriff zwischen 300 und 1.000 Euro. Der 2018 gegründete Verein „Changes for Women“ bietet mithilfe von anonymen Spenden schnelle, unbürokratische Hilfe für Bedürftige, die sich den Abbruch sonst nicht leisten könnten. Vereinzelt unterstützen auch öffentliche Stellen Betroffene finanziell, zum Beispiel die Wiener Magistratsabteilung 40 oder die Tiroler Landesabteilung Soziales. Dafür gelten aber strenge Kriterien. Anna Maria Lampert von Changes for Women fordert daher, dass die Krankenkassen die Kosten übernehmen.

Auch die tag eins-Umfrage deutet darauf hin, dass eine Entstigmatisierung und eine bessere Ausbildung mehr Ärzt*innen dazu bewegen könnten, Schwangerschaftsabbrüche anzubieten – und den Eingriff als das zu sehen, als was ihn eine*r der Befragten beschreibt: als „Teil des gynäkologischen Programms“.


Korrigiert am 28.3.2023: In einer früheren Fassung wurde fälschlicherweise angegeben, dass ein operativer Abbruch nur bis zur 12.Schwangerschaftswoche durchgeführt werden darf. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

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