Der Pickel am Arsch der Heimatdebatte
Postmigrant:innen haben es nicht nötig, sich zu integrieren. Lieber wollen sie Geschichte lernen – vor allem ihre eigene. Ein Plädoyer.
Ich bin keine Migrantin. Schließlich bin ich nirgendwoher und nirgendwohin migriert. Geboren und aufgewachsen in der Donaumetropole kann ich mich getrost ein Wiener Original nennen – sogar mein Name leitet sich von Wien ab. Weil ich mich aber auf die Migrationsgeschichte meiner Familie beziehe, bezeichne ich mich des Öfteren als „postmigrantisch“. Ein Begriff, der in der österreichischen Öffentlichkeit noch nicht richtig angekommen ist.
Postmigrant*innen – das sind wir, die „Ausländer-“, „Migranten-“ und „Gastarbeiterkinder“ (als solche stehen wir sogar im Duden). Ohne uns, so meinte FPÖ-Politiker Gottfried Waldhäusl in einer Fernsehdiskussion, wäre „Wien noch Wien“. Noch als zweite und dritte Generation von Einwander*innen haben bzw. verursachen wir aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft vor allem Probleme: Sprachdefizite, Gewalt an Schulen, Kriminalität, fehlende kulturelle Anpassung. Obwohl wir schon immer hier gelebt oder den Großteil unseres Lebens in diesem Land verbracht haben, gelten wir als Fremde, werden wir immer wieder gefragt: „Aber wo kommst du wirklich her?“
Heimaten statt Vaterland
Wir sind der lästige Pickel am Arsch der Heimatdebatte – wir glauben nicht an völkische Ursprünglichkeit und Einheit, misstrauen der Rede von Nation und Vaterland. Höchstens sprechen wir von Heimaten im Plural, noch lieber aber von Zuhause, als einem Ort der Wahl, nicht der Vorherbestimmung. Wir können und wollen uns nicht mit herkömmlichen Identitätskategorien identifizieren, weil sie unsere hybriden Lebensentwürfe, unsere multiplen und simultanen Zugehörigkeiten, nicht fassen können. Wie oft musste ich mir schon solche unsinnigen Fragen anhören: „Fühlst du dich mehr als Koreanerin oder Österreicherin? Oder sitzt du zwischen den Stühlen?“ Next please!
Unsere Anwesenheit stiftet – noch immer – Irritation. Denn wir sind die Erinnerung, dass Migration unsere Gesellschaft schon längst verändert hat. Eine Tatsache, die der Begriff des Postmigrantischen beschreibt.
Neu ist nur das Wort, aber nicht das, was es benennt. Dabei bedeutet die Vorsilbe „post“ nicht etwa, dass die Migration vorbei und abgeschlossen sei, sondern „meint nichts anderes als die Gesellschaft, die wir durch Migration heute geworden sind“, wie Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin, einmal formulierte.
Das postmigrantische Bewusstsein wurzelt in den Selbstermächtigungsprozessen von uns „Ausländerkindern“ und der „zweiten/dritten Generation“ seit den 1980er- und 1990er-Jahren. Als Subjekte der Postmigration – die jedoch weiterhin von anderen als Migrant*innen gesehen werden – erheben wir mit kreativen Strategien Anspruch auf Sichtbarkeit, gesellschaftliche und politische Teilhabe und Definitionsmacht.
Zumindest in akademischen und künstlerischen Kreisen ist das Sprechen über die „Postmigration“ bzw. das „Postmigrantische“ mittlerweile etabliert. Das, worauf sich der Begriff bezieht, entspringt aber nicht abstrakten Überlegungen, sondern bezieht sich auf sehr konkrete Erfahrungen mit Rassismus und Othering (also der Prozess, in dem man durch Stereotype und Vorurteile als „fremd“ und „anders“ konstruiert wird) – egal, wie tadellos unsere Deutschkenntnisse sitzen und perfekt „integriert“ wir sind.
„Eine permanente Zumutung im Alltag“ nennt das der Historiker Kijan Espahangizi. Der Sozialanthropologe Rohit Jain stellt fest: Auch wenn die postmigrantische Gesellschaft längst Realität ist, sind die Institutionen der Gesellschaft – seien es Medien, Kunstbetriebe, Universitäten oder staatliche Einrichtungen – nicht imstande oder bereit, sich an die entstandene Vielfalt anzupassen.
Gegen das Integrationsimperativ
Wir lassen uns nicht mehr von der Mehrheitsgesellschaft definieren, sondern definieren uns selbst. Doch dieses "Wir" ist nicht einheitlich, sondern basiert auf einer Allianz, die real wird durch kollektive Aktionen. Der Raum, den wir als Postmigrant*innen miteinander teilen, zielt weniger auf eine faktische denn imaginierte Gleichheit ab. Uns eint nicht das Schicksal, sondern der gemeinsame Bezug auf eine migrantische Erfahrung und ein Wissen der Marginalisierung.
"Wir" ist keine Identität, sondern eine Perspektive: auf die Mehrheitsgesellschaft und auf die herrschenden Verhältnisse. Der Soziologe Erol Yildiz nennt das Postmigrantische sinngemäß „implizit herrschaftskritisch“. In einer Welt der „Integrationsvereinbarungen“ und angesichts einer Politik, die Menschen nach ihrer Herkunft unterscheidet und bestraft, weist das Konzept des Postmigrantischen den Integrationsimperativ entschieden zurück.
Letzterer dominiert seit Jahren den politischen Diskurs und fasst Integration als verpflichtende individuelle Leistung von Migrant*innen. Unberücksichtigt bleiben dabei jedoch die restriktiven Rahmenbedingungen und Diskriminierungen, mit denen Migrant*innen und ihre Nachkommen konfrontiert sind. Das Postmigrantische treibt stattdessen als Werkzeug eine aktualisierte Analyse des Rassismus in der Gesellschaft voran.
Die gesellschaftliche Migrationsvergangenheit wird ignoriert
Demnach ist das Postmigrantische auch nicht für die neoliberale gefärbte Rede von Diversity zu begeistern. Schließlich wollen wir nicht bloß in Statistiken auftauchen. Stattdessen sehnen wir uns nach einer anderen Sprache, anderen Bildern, anderen Narrativen.
Vor allem aber wollen wir einen anderen Umgang mit (unserer) Geschichte, denn noch immer finden sich unsere Erfahrungen und die unserer Eltern und Großeltern in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum wieder. Dass einige unserer Eltern als Gastarbeiter*innen in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Österreich geholt wurden und hiergeblieben sind, bezeichnete Bundeskanzler Karl Nehammer jüngst als „Fehler“ – „Integrationsproblem inklusive“. Dass sich der heutige Wohlstand dieses Landes auch auf der (schlecht bezahlten und wenig prestigereichen) Tätigkeit von angeworbenen Arbeiter*innen gründet, blieb unerwähnt.
Postmigrant*innen wollen ein neues Geschichtsbewusstsein. Wir heben all die vergessenen, übergangenen Erinnerungen und Geschichten in unseren Familien aus, die so lange keinen Platz in der Öffentlichkeit einnehmen durften. Indem wir die Vergangenheit neu erzählen, weisen wir auch auf unsere anzuerkennende Präsenz im Jetzt und im Morgen hin.Wir folgern also: Weg mit dem Integrationskurs – her mit dem Geschichtskurs (für alle)!