Österreichs Klassen-Demokratie
Das Wahlrecht ist in Österreich ungleich verteilt. Bild: Orbon Alija / iStock
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Johannes Greß
Reporter

Österreichs Klassen-Demokratie

Wer in Österreich wählen darf, das bestimmt auch das Einkommen. Im Nationalrat finden die Anliegen der Besserverdienenden daher mehr Gehör. 


Aus seiner Heimat kennt Zakarya Demokratie als Schauspiel. Seit den 1970ern regiert die Familie al-Assad das Land mit eiserner Hand. Wahlen finden statt, aber das Ergebnis steht schon vorher fest.

Ende 2014 macht sich Zakarya, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, auf den Weg. Er lässt seinen Heimatort unweit der Hauptstadt Damaskus, seine Familie und sein bisheriges Leben zurück. Rund eineinhalb Jahre später kommt er in Österreich an, noch einmal sechs Monate später hält er einen positiven Asylbescheid in den Händen. Seit knapp zehn Jahren lebt Zakarya nun in Österreich. Die Demokratie beobachtet der heute 34-Jährige nach wie vor als Zuschauer. 


Dass Menschen wie Zakarya mangels Staatsbürger*innenschaft vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, ist nicht nur für die Gruppe der Migrant*innen ein Problem – sondern für die unteren Einkommensschichten insgesamt. Bei den Nationalratswahlen im Herbst werden gut 19 Prozent der in Österreich lebenden Menschen nicht mitstimmen dürfen, die meisten von ihnen gehören dem unteren Einkommensdrittel an. Das hat Auswirkungen darauf, wie in Österreich Politik gemacht wird. Im Nationalrat sind die Interessen der unteren Einkommensgruppen weniger vertreten. Oder anders: Der Nationalrat macht Politik zu Gunsten der Besserbetuchten. 

Nur 40 Prozent der Arbeiter*innen dürfen wählen

Dem Prinzip nach bedeutet Demokratie, dass alle über alles bestimmen können. Aber: „In Demokratien wurde schon immer versucht, bestimmte Gruppen von Entscheidungen auszuschließen“, erklärt Martina Zandonella. Sie ist Senior Researcher am Umfrageinstitut Foresight und forscht zu demokratischer Beteiligung im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Sklav*innen, Besitzlose, Frauen und Sexarbeiter*innen durften über Jahrhunderte nicht an Wahlen teilnehmen. Diese Entstehungsgeschichte wirkt bis heute nach, „Demokratie funktioniert nach wie vor klassenspezifisch“, erklärt Zandonella. 

Während beispielsweise in Wien 94 Prozent der öffentlich Bediensteten und 74 Prozent der Angestellten wählen dürfen, sind lediglich 40 Prozent der Arbeiter*innen wahlberechtigt. Bei Nationalratswahlen darf lediglich ein Drittel der Reinigungs- und Pflegekräfte und weniger als die Hälfte der Hilfsarbeitskräfte wählen. 

„Das tut mir weh“

Anfangs schlug sich Zakarya mit Gelegenheitsjobs durch, baute Bühnen auf, stand als Security Schmiere, stellte Essen zu, verkaufte Kleidung oder Brötchen. Ohne Führerschein, ohne Sprachkenntnisse, ohne Kontakte war es schwer, eine Vollzeitstelle mit anständigem Gehalt zu finden, erinnert er sich. 

„Ich arbeite hier, ich zahle wie alle anderen Steuern. Aber ich kann nicht entscheiden, was in diesem Land passiert.“ Zakarya

In seiner Heimat studierte Zakarya Politikwissenschaft, noch heute beobachtet er die syrische Politik genau, spricht über den Krieg, das Assad-Regime und den Einfluss Russlands. Die EU-Wahlen, die wenige Wochen vor dem Gespräch mit tag eins stattfanden, verfolgte er vor dem Fernseher – als Zuschauer. „Das tut mir weh“, sagt Zakarya. „Weil ich bin Teil dieser Community, ich arbeite hier, ich zahle wie alle anderen Steuern. Aber ich kann nicht entscheiden, was in diesem Land passiert“. 

Der Mitarbeiter der Wiener Stadtwerke Zakarya lebt seit knapp 10 Jahren in Österreich – er hofft im Herbst 2025 das erste Mal hier wählen zu dürfen. Bild: privat

Zerrbild

Dass Menschen wie Zakarya nicht wahlberechtigt sind, führt dazu, dass der Nationalrat die Bevölkerung Österreichs verzerrt abbildet. Im Umkehrschluss besteht für Parteien wenig Anreiz, sich für Menschen ohne Staatsbürger*innenschaft stark zu machen – sie werden es ihnen am Wahltag nicht danken können. Die Auswirkungen dieser Schieflage konnten die Politikwissenschafter*innen Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer für Deutschland nachzeichnen. Über 15 Jahre, von 1998 bis 2013, haben Elsässer und ihre Kolleg*innen die Entscheidungen des Deutschen Bundestages beobachtet.

„Es ist ganz klar, dass hierzulande einige über andere bestimmen, dass die österreichische Demokratie untere Einkommensgruppe systematisch ausschließt.“ Martina Zandonella, Politikwissenschafterin


Sie stellten fest, dass im Berliner Reichstagsgebäude „häufiger auf die Ansichten und Anliegen der obersten Einkommensschicht reagiert“ wird, während „die Meinungen der unteren und mittleren Einkommensschichten dagegen kaum beachtet oder sogar missachtet werden“. Auffällig ist, dass es kaum einen Unterschied machte, ob Sozialdemokraten, Grüne, Liberale oder Christdemokraten in der Regierung saßen. 

Vergleichbare Studien gibt es für Österreich keine, Wahlforscherin Zandonella geht davon aus, dass die Ergebnisse hierzulande ähnliche wären: „Es ist ganz klar, dass hierzulande einige über andere bestimmen, dass die österreichische Demokratie untere Einkommensgruppe systematisch ausschließt“. 

Martina Zandonella forscht zu Demokratie und sozialer Ungleichheit. Bild: Matphoto

Demokratiepolitischer Teufelskreis

Dass viele Menschen nicht an Wahlen teilnehmen dürfen, führt dazu, dass andere gar nicht wollen. Da sich Teile der unteren Einkommensgruppen – zu Recht – nicht vertreten fühlen, bleiben sie der Urne fern. Bei der Nationalratswahl im Herbst 2019 betrug die Wahlbeteiligung im oberen Einkommensdrittel 83 Prozent, im unteren 59 Prozent. So entsteht ein demokratiepolitischer Teufelskreis aus fehlendem Angebot und sinkender Nachfrage.

Zakarya würde gerne wählen gehen, sehr gerne sogar. Dass europaweit rechte und rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch sind, beunruhigt ihn. Ende September stehen Nationalratswahlen ins Haus, auch sie werden ohne Zakarya stattfinden. „Ich pushe sie, wählen zu gehen“, sagt Zakarya über seine wahlberechtigten Freund*innen und Bekannten. „Wenn die FPÖ im Herbst gewinnt, wird es für mich und meine Community sicher nicht einfacher.“

Pass? Egal!

Im Laufe der Jahrhunderte durften in Österreich immer mehr Menschen über die politischen Geschicke ihres Landes mitbestimmen. 1896 waren erstmals Arbeiter zugelassen, seit 1918 Frauen, 1923 auch Sexarbeiterinnen. Jeder dieser Erweiterungen wurde hart erkämpft, teils blutig. Die letzte große Reform erfolgte 2007, als das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt wurde. Seither stockt es. 

„Es gibt ein populistisches Interesse, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen, Menschen ohne Staatsbürger*innenschaft als Bedrohung darzustellen“, kritisiert Alexander Pollak, Sprecher der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch. Eine Änderung des Wahlrechts braucht eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, doch ÖVP und FPÖ blockierten jegliche Reform, so Pollak. 

„Die Ausgrenzung so vieler Menschen vom Wahlrecht ist problematisch und unfair.“ Alexander Pollak, Sprecher der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch

Pollak und SOS Mitmensch versuchen es auf anderem Wege. 2013 riefen sie die „Pass Egal Wahl“ ins Leben, bei der all jene ihre Stimme abgeben dürfen, die mangels Pass eigentlich ausgeschlossen sind. Innerhalb weniger Stunden standen mehrere Hundert Nicht-Wahlberechtigte Schlange, „die haben alle gestrahlt bei der Stimmabgabe“, erinnert sich Pollak. Allein die symbolische Teilnahme habe viele Menschen sehr berührt.

Seither geht keine Nationalrats- oder Präsidentschaftswahl mehr ohne „Pass Egal Wahl“ über die Bühne. Auch zahlreiche Schulen richten in Kooperation mit SOS Mitmensch Wahlen für Schüler*innen ohne Staatsbürger*innenschaft aus. Das Ergebnis der „Pass Egal Wahl“ – das sich im Regelfall stark vom eigentlichen Wahlergebnis unterscheidet – hält Pollak für ein „Nebenprodukt“. Im Kern gehe es darum, zu zeigen, „dass die Ausgrenzung so vieler Menschen vom Wahlrecht problematisch und unfair ist“.

Alexander Pollak, Sprecher bei SOS Mitmensch. Die Menschenrechtsorganisation hat 2013 die Pass-Egal-Wahl ins Leben gerufen. Bild: SOS Mitmensch

Goldene Pässe

Seit gut eineinhalb Jahren ist Zakarya bei den Wiener Stadtwerken angestellt, er liefert im Auftrag von Wiener Linien, Wien IT, Wien Energie und Co. Briefe aus, täglich legt er dafür zu Fuß bis zu 15 Kilometer zurück. Wenn er davon erzählt, strahlt er übers ganze Gesicht: Endlich eine Vollzeitstelle, endlich ein ordentliches Gehalt – eine Perspektive! „Seit 2018 brauche ich keine Unterstützung vom AMS mehr“, sagt Zakarya sichtlich stolz. 

Eine Vollzeitstelle ist fast die einzige Chance für ihn, an eine Staatsbürgerschaft zu kommen. Nicht nur das Wahlrecht ist hierzulande besonders restriktiv, auch die Hürden für einen österreichischen Pass sind fast nirgends in der EU so hoch wie in Österreich. Gut 19.000 Euro Netto-Jahreseinkommen muss eine Einzelperson vorweisen können, um Aussicht auf eine Staatsbürger*innenschaft zu haben. SOS Mitmensch hat auf Basis von Daten des AMS 68 Berufe identifiziert, in denen nicht einmal eine Vollzeitstelle reicht, um diese Hürde zu nehmen. Wie Diana Stögner (Uni Wien) und Nikolaus Kowall (Hochschule für Wirtschaft, Management und Finance der FH des BFI sowie SPÖ-Politiker) in einem Beitrag für „Wirtschaft und Gesellschaft“ zeigen, erfüllen fast zwei Drittel aller Arbeiter*innen dieses Einkommenskriterium nicht – unabhängig von der Staatsbürger*innenschaft. Zudem sind die Gebühren zur Erteilung einer Staatsbürger*innenschaft mit bis zu 2.766 Euro pro Person um das Zehnfache höher als in Deutschland.

„Die Verleihung einer Staatsbürger*innenschaft ist von der Geldbörse abhängig, die unteren Einkommensgruppen haben überhaupt keine Chance“, kritisiert Wahlforscherin Zandonella. Für Niedrigverdiener*innen bedeutet das, dass ihnen das Recht auf demokratische Teilhabe mitunter ein Leben lang verwehrt bleibt. Dasselbe gilt für ihre Kinder: In Österreich gilt das Abstammungsprinzip („ius sanguinis“), hierzulande geborene Kinder erhalten nicht die österreichische, sondern die Staatsbürger*innenschaft ihrer Eltern. Verdienen diese nicht genug, sind auch die Nachkommen vom Wahlrecht ausgeschlossen. 

Demokratie-Teilnehmer

Aufgrund der politischen Blockadehaltung von ÖVP und FPÖ gilt eine Änderung des Wahlrechts auf absehbare Zeit als nahezu ausgeschlossen. Für realistischer hält Zandonella einen vereinfachten Zugang zur Staatsbürger*innenschaft. Nicht zuletzt reicht hierfür eine einfache Mehrheit im Nationalrat. 

Auch Zakarya will es im September versuchen. Mit seiner Anstellung bei den Stadtwerken rechnet er sich gute Chancen auf einen österreichischen Pass aus. Wenn alles gut geht, sind die Wahlen zum Wiener Gemeinderat im Herbst 2025 die ersten, bei denen er nicht nur Zuschauer ist.

Johannes Greß arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt überwiegend zu den Themen Arbeit und Umwelt, u.a. für den „Standard", „Dossier“, die „Zeit" und das „Südwind“-Magazin. Johannes ist außerdem Mitglied des FYI-Kollektivs, ein Zusammenschluss sechs freier Journalist*innen aus Wien.
Autor*in: Johannes Greß

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