Wer hätte das gedacht. Jetzt steigt aus dem Bundeskanzleramt in Österreich doch noch weißer Rauch auf und das schneller als aus dem Vatikan. (Gottseidank – möge der Papst schnell gesund werden und noch lange leben.) ÖVP, SPÖ und NEOS haben sich auf eine Regierungszusammenarbeit geeinigt. Nach dem Chaos der letzten Monate eine willkommene Abwechslung, für die man wahrhaftig dankbar sein muss.
An dieser Stelle möchte ich aber nicht näher auf das Regierungsprogramm eingehen, das machen andere in großem Umfang und Detail. Stattdessen will ich dir erzählen, was mich diese Woche intensiv beschäftigt hat. Und zwar weniger die Frage, ob der Wiener SPÖ-Stadtrat Peter Hanke jetzt wirklich Finanzminister, doch eher Infrastrukturminister oder überhaupt kein Minister wird, sondern wie die österreichischen Medien durch die Bank mit dieser Frage umgegangen sind.
Ich sag’s dir, wie es ist, ich finde das peinlich und sinnbildhaft für den Umgang mit politischen Gerüchten in der österreichischen Online-Berichterstattung. Der Mehrwert dieser Berichte und Headlines erschließt sich mir nicht. Dass in einer politischen Partei verschiedene Gruppierungen verschiedene Interessen verfolgen und es dabei auch um Posten und Macht geht, ist für Menschen, die das politische Geschehen verfolgen nichts Neues. Daraus wird erst ein ,Offener Machtkampf’, wenn Medien sich von der Politik dafür einspannen lassen.
Meine Vermutung wäre, dass es den tagesaktuellen Medien dabei primär um Klicks und damit indirekt auch um Werbegelder geht. Postenspekulationen – insbesondere wenn es um die höchsten Ämter der Republik geht – interessieren viele Leute und wirken sich gut auf den Traffic aus. Dass dabei aber Gerüchte und Dementi solange hin und her gespielt werden, bis sich niemand mehr auskennt, trägt eher nicht zum eh schon beschädigten Vertrauen in Medien und Politik bei.
Diese Woche haben wir für dich:
❏ Einen Blick hinter die Kulissen von tag eins. Wie gehen wir im Journalismus mit anonymen Quellen um?
❏ Eine Analyse des neuen Regierungsprogramm mit Fokus auf Überwachung und Sicherheitspolitik
❏ Eine exklusive Recherche über ein oberösterreichisches Gewehr, das von Terroristen im Gaza-Streifen verwendet wird
❏ Eine Rezension des Buches Digitale Diagnosen, in dem der Mental-Health-Trend auf Social Media kritisch aufgearbeitet wird
Bei tag eins fokussieren wir uns auf das in unseren Augen Wesentliche und Berichtenswerte. Und wir legen unseren Umgang mit anonymen Quellen transparent offen. Darüber erzählt euch heute unsere Redaktionsleiterin Anna Mayrhauser etwas.
Viel Spaß mit dem tag eins briefing!
von Anna Mayrhauser📧
Letzte Woche haben wir bei tag eins den Artikel einer anonymen Autorin veröffentlicht. Als wir das Angebot in unserer Redaktionssitzung diskutiert haben, haben wir besprochen: Ist es okay, wenn der Artikel – ein Erfahrungsbericht über das Leben mit ADHS – anonym erscheint?
In diesem Fall haben wir schnell entschieden. Über psychische Gesundheit öffentlich zu sprechen ist immer noch stark tabuisiert. Es ist verständlich, wenn man vor allem im beruflichen Kontext nicht immer mit seiner Diagnose in Verbindung gebracht werden will. Denn die ploppt, sobald man sich öffentlich dazu äußert, bei jeder Google-Suche auf.
Das betrifft nicht nur ADHS, sondern auch andere Themen aus dem Gesundheitsbereich, die sehr persönliche Lebensbereiche berühren. Trotzdem ist es wichtig, auch persönliche Erfahrungsberichte zu diesen Themen lesen zu können, da gerade diese Stimmen aus Angst vor Stigmatisierung oft zu kurz kommen. Wer die betroffene Person genau ist, ist aber nicht von öffentlichem Interesse.
Solange Artikel und Autor*in von uns geprüft, die Fakten gecheckt und wir die Richtigkeit der Angaben redaktionell überprüfen können, finden wir es also okay. Bei tag eins haben wir bis jetzt wenig mit Anonymisierungen gearbeitet und wenn, dann vor allem auf Wunsch von betroffenen Gesprächspartner*innen – in den meisten Fällen hatte der Wunsch nach Anonymisierung berufliche Gründe.
„Anonyme Zitierungen sind zu vermeiden, sofern es nicht um die Sicherheit der zitierten Person oder die Abwehr eines anderen schweren Schadens von dieser geht“, heißt es im Ehrenkodex für die österreichische Presse dazu. Dass das Abwägen hierzu aber oft nicht so einfach ist, zeigt die aufsehenerregende Berichterstattung des Standards über den Fall Lena Schilling im vergangenen Jahr, in der sehr viele anonyme Quellen zitiert wurden.
Der Presserat urteilte im Hinblick auf die Anonymisierungen, das die Berichterstattung grundsätzlich zulässig war – auch das Arbeiten mit anonymen Quellen. Nicht veröffentlicht werden hätten aus medienethischer Sicht jedoch die Passagen, die von anonymisierten Quellen stammten und nur Charakterurteile über Lena Schilling darstellten.
Viele Recherchen wären ohne anonyme Quellen nicht möglich, man denke etwa an die Berichterstattung über #MeToo-Fälle, Missstände in Behörden und Institutionen. Reporter ohne Grenzen schreibt dazu: „Kritischer Journalismus ist nur möglich, wenn sich Personen vertrauenswürdig an Medien wenden können, um Missstände aufzudecken.“
Bei tag eins fragen wir uns unter anderem auch: Dient die Anonymisierung dem Eigeninteresse der Person? Ist sie zu ihrem Schutz? Ändert sich für die Öffentlichkeit etwas an der Geschichte, wenn die Person unter Klarnamen auftreten würde? Büßt die Geschichte an Glaubwürdigkeit ein, wenn die Person anonym spricht?
Als Medium, das versucht, sensibel mit Diskriminierungen umzugehen, entscheiden wir dabei vielleicht auch manchmal anders, als das größere Medien tun würden. Wichtig ist uns vor allem, transparent damit umzugehen und zu erklären, warum eine Quelle anonymisiert ist oder eine Person nur anonym sprechen möchte.
Es war ein solider Auftritt, den die künftige Regierungsspitze am Donnerstag absolvierte, um ihr künftiges Regierungsprogramm zu präsentieren.
Atmosphärisch waren Christian Stocker (ÖVP), Andreas Babler (SPÖ) und Beate Meinl-Reisinger (NEOS) anzumerken, dass sie Kompromisse eingegangen sind, immerhin waren sie per Du. Fragen von Journalist*innen wurden von ihnen locker beantwortet, die schlechte wirtschaftliche Lage betont, viel über Pensionen, die kommende Mietpreisbremse und die Bankenabgabe geredet.
In seinen Ausführungen macht der künftige Bundeskanzler Stocker klar, dass für seine Regierung Migration, Islamismus und innere Sicherheit zusammenhängen. Ganz so wie es ÖVP und FPÖ schon seit Jahren argumentieren. Als Symbol für diese Politik soll ein „verfassungskonformes Kopftuchverbot“ kommen. Dazu passt auch, dass „religiös-kulturell-motivierter Homo- und Transphobie, insbesondere in migrantisch geprägten Communities und patriarchalen Gruppierungen“ bekämpft werden soll, wie im Regierungsprogramm zu lesen ist.
Gut versteckter Bundestrojaner
Die Handschrift der ÖVP ist auch beim Thema Überwachung zu erkennen. Im Regierungsprogramm ist auch der sogenannte Bundestrojaner, also die polizeiliche Überwachung von Kommunikation am Handy, zu finden. Und zwar gut versteckt: „Schaffung einer verfassungskonformen Gefährder-Überwachung zum Zweck gezielter Terrorbekämpfung auf Basis des Begutachtungsentwurfs 350/ME XXVII.GP“, ist auf Seite 81 zu lesen.
Der erwähnte Begutachtungsentwurf ist der Gesetzesentwurf der ÖVP für den Bundestrojaner, dem nicht nur die Datenschutz-NGO epicenter.works als „vermutlich wieder verfassungswidrig“ kritisiert. Der Verfassungsgerichtshof hat den Einsatz derartiger Software, mit der verschlüsselte Kommunikation von Messengern wie Signal mitgelesen werden kann, im Jahr 2019 untersagt. Der VfGH hat mit seinem Urteil die Hürden für den Einsatz extrem hoch gelegt, da dieser „einen schwerwiegenden Eingriff des Grundrechts auf Privatsphäre“ darstelle. Deswegen verlangt der VfGH einen strengen Rechtsschutz und Kontrollen sowie klare Regeln, wann und wie die Software eingesetzt wird. Expert*innen halten es für nahezu unmöglich, diese Vorgaben zu erfüllen.
Dazu kommt, dass es für den Begriff „Gefährder“ keine exakte rechtliche Definition gibt. In der Vergangenheit bekamen Islamisten ebenso Gefährderansprachen wie auch rechte Demonstrant*innen. Bisher waren die NEOS vehement gegen den Einsatz derartiger Software. „Privatsphäre und die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sollten nicht leichtfertig am Altar vermeintlicher Sicherheit geopfert werden dürfen“, hieß es dazu noch vor wenigen Wochen. Nun heißt von den NEOS auf Anfrage: „Wir sind nicht für den Bundestrojaner. Wir sind für eine verfassungskonforme Gefährder-Überwachung.“
Seitens der SPÖ heißt es nun, dass der Einsatz nur unter strengen Auflagen stattfinden soll und es keine „allgemeine Überwachung“ sei.
Überwachung
Ein größerer Schritt Richtung Überwachung findet sich unter dem Titel „Kampf gegen Cyberkriminalität“. Dort ist zu lesen, dass Netzbetreiber ihren Kunden IPv6-Internetadressen (Internet Protocol) geben müssen. Damit ist für Sicherheitsbehörden die Hoffnung verbunden, Internetnutzer*innen einfacher identifizieren zu können, da jedes mit dem Internet verbundene Gerät eine IPv6-Adresse bekommt.
Hintergrund: Jedem Nutzer wird eine sogenannte IP-Adresse zugewiesen, wenn er sich im Netz bewegt. 4,3 Milliarden davon stehen bei IPv4 rechnerisch zur Verfügung. Alle diese IPv4-Adressen sind bereits vergeben und damit aufgebraucht. Auch wegen dieser Adressknappheit werden die IP-Daten bislang an Internetnutzer*innen dynamisch vergeben, das heißt, man bekommt meist bei jeder Einwahl über einen Provider eine andere Adresse zugeteilt. Damit wird auch halbwegs unerkanntes Bewegen im Internet ermöglicht. Das sollte sich mit IPv6 ändern, dieses Protokoll erlaubt 340 Sextillionen eindeutige Adressen.
Gegen diese Identifizierbarkeit kann allerdings etwas getan werden. Und zwar mit den „Privacy Extensions“ von IPv6 – diese wurden explizit zum Schutz der Nutzer*innen konzipiert. Wird diese Option genutzt, ist die Identifizierung einzelner Geräte anhand der IPv6-Adresse enorm erschwert. Stand heute schreibt jedenfalls die Telekombehörde RTR den Mobilfunkern vor, dass sie ihren Kund*innen IPv4 zur Verfügung stellen müssen.
Mit Waffen ist das so eine Sache. Einmal produziert und in Umlauf gebracht, kann niemand mehr garantieren, dass sie nur von den „Richtigen“ eingesetzt werden. Selbst ein neutrales Land wie Österreich nicht. So kann es dann „passieren", dass Waffen – im konkreten Fall das Gewehr StG77 der oberösterreichischen Firma Steyr Arms – offenbar in Gaza zum Einsatz kommt. Während der Israeli-Österreicher Tal Shoham aus der Geiselhaft freigelassen wurde, posierte
ein Hamas-Mann mit genau so einem Gewehr.
Wie es es dazu kommen kann und was das Innenministerium dazu sagt hat Markus Sulzbacher exklusiv für tag eins recherchiert.
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von Emil Biller📧
Was passiert, wenn klinische Diagnosen zu TikTok-Trends werden? In ihrem Buch Digitale Diagnosen zeigt Laura Wiesböck, wie Social Media unsere Wahrnehmung von psychischer Gesundheit verzerrt – und gesellschaftliche Machtstrukturen zementiert.
Zwischen „Sad Girl Culture“ und dem inflationären Gebrauch von Begriffen wie „toxisch“ und „Trauma“ enthüllt die Soziologin, wie aus persönlichen Krisen virale Inhalte werden und welche Rolle kapitalistische und neoliberale Strukturen dabei spielen.
Den vollständige Rezension kannst du hier lesen (exklusiv für Mitglieder):
Wenn du diese Zeilen liest, weißt du vielleicht schon wer Finanzminister wird. Der Kurier war sich gestern jedenfalls sehr sicher, dass es doch Andreas Schieder werden soll:
Zwei Stunden später titelte Der Standard:
Aus der Kurier-Headline wurde daraufhin:
Besonders die Verwendung des Wortes plötzlich ist in diesem Zusammenhang sehr entlarvend. Ich freue mich jedenfalls und warte ganz geduldig darauf, die Minister*innen von der SPÖ zu erfahren – und zwar nachdem der Parteivorstand heute getagt hat.
Bisschen mehr Geduld würde manchen Kolleg*innen wohl auch nicht schaden. Apropos Geduld, die braucht es auch im Hinblick auf die neue Koalition. Denn ob das mit dieser Regierung wirklich was wird, wissen wir erst am Sonntag, wenn das Ergebnis der NEOS-Mitgliederabstimmung vorliegt – 2/3 der knapp 3.000 Mitglieder müssen das Programm absegnen. Es bleibt also spannend!
Trotzdem ein ruhiges Wochenende wünscht,
Emil von tag eins
PS: Hinter den Kulissen von tag eins tut sich momentan sehr viel – bald verraten wir mehr, aber du wirst wohl schon vor dem nächsten Briefing am Freitag etwas von uns hören. Stay tuned!
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