Braunalgen in der Karibik: Wie wird aus dem Ärgernis eine grüne Industrie?
An der Küste des mexikanischen Bundesstaats Quintana Roo, eines beliebten Tourismusziels, sammeln sich besonders viele Braunalgen. Bild: sarah / Adobe Stock
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Sandra Weiss
Reporterin

Braunalgen in der Karibik: Wie wird aus dem Ärgernis eine grüne Industrie?

Die Braunalge bedroht den Tourismus in der Karibik. Mexikanische Unternehmen versuchen, das schlammige Gestrüpp in eine Ressource zu verwandeln – in Biogas, Dünger oder veganes Leder. Was muss geschehen, damit das klappt?

Die mexikanische Forscherin Rosa Elisa Rodríguez Martínez lebt dort, wo andere Urlaub machen: in Puerto Morelos, einem kleinen Fischerdorf südlich des mexikanischen Badeortes Cancún. Doch 2011 konnte die Biologin vom Institut für Meereswissenschaften und Limnologie der Nationalen Autonomen Universität plötzlich nicht mehr an ihrem Lieblingsstrand ins Wasser: Er war übersät mit stinkenden, braunen Algen.

„Braunalgen gab es in der Karibik immer, aber nur sehr wenige, und nur ein paar Monate im Jahr“, erinnert sie sich. „Ab 2011 sind die Mengen jedoch exponentiell angestiegen, und die Algensaison wurde länger.“ ___STEADY_PAYWALL___

In diesem Jahr droht ein neuer Rekord: Im März entdeckten Wissenschaftler*innen des College für Meereswissenschaften der Universität von Südflorida im Atlantik einen riesigen, gelb-braunen Algengürtel, der in Richtung Golf von Mexiko trieb. Sie schätzten die Menge auf etwa 13 Millionen Tonnen – so viel wie noch nie.

Ein globales Phänomen, ein lokales Problem

Die Braunalge stammt ursprünglich aus der Sargassosee, einem Meeresgebiet östlich des US-Bundesstaates Florida. Durch den warmen Golfstrom bildet sich dort traditionell ein Braunalgenteppich, den Aale zum Laichen nutzen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten entdeckten Forscher*innen auch große Ansammlungen von Sargassum, also Braunalgen, im kühleren Südatlantik, zwischen Afrika und Brasilien. Das enorme Algenwachstum hat verschiedene Ursachen: vom Klimawandel über Stickstoff-Freisetzungen aus der Tiefsee bis zur Überdüngung der Böden, durch die Chemikalien über Flüsse ins Meer gelangen.

Das ist zwar ein globales Phänomen, doch für die Karibikstaaten ist es besonders ärgerlich – denn sie leben vom Tourismus. Die Meeresströmungen spülen besonders viel Sargassum zu ihnen. Besonders betroffen ist die 1.176 Kilometer lange Küste des mexikanischen Bundesstaates Quintana Roo, das bekannteste und beliebteste Strandziel der Karibik.

Im Jahr 2022 landeten mehr als 30 Millionen Besucher*innen auf dem Flughafen von Cancún. Die meisten steuerten die Strände der Region zwischen der Insel Holbox im Norden und dem Tauch-Hotspot Mahahual im Süden an.

Ein teures Ärgernis

Doch bei Sargassum-Alarm wird der Urlaub schnell zum Ärgernis. Denn die Alge übersät das türkisfarbene Wasser mit einem schlammigen, grünbraunen Gestrüpp. Der Algenteppich schwemmt eine große Menge an Mikroplastik und Schwermetallen an den Strand. Wenn diese Masse an Land gespült wird, zersetzt sie sich. Dabei entstehen Sickerwasser und ungesunde, stinkende Schwefelgase.

Die Algenteppiche führen dazu, dass Meeres- und Küsten-Ökosysteme weniger Sauerstoff aufnehmen können. Schildkröten müssen sich durch die Algen kämpfen, um ihre Nester zu graben.

Das Gestrüpp will niemand am Strand haben. Doch das Einsammeln der Algen ist teuer, und sie sind schwer zu entsorgen, weil sie auf eine Sondermülldeponie müssten. Die Biologin Rodríguez beziffert die Kosten für die Reinigung eines Strandabschnitts von einem Kilometer Länge auf bis zu 100.000 Dollar. 

„Sargassum hat antibakterielle, blutdrucksenkende, entzündungshemmende und krebshemmende Eigenschaften.“ Elisa Rodríguez Martínez, Forscherin

Das Algenproblem brachte 2015 in Quintana Roo alle Beteiligten an einen Tisch – Forscher*innen, Politiker*innen, Geschäftsleute und die Marine. Nicht alles, was bei diesen Debatten herauskommt, sei erfreulich, sagt Rodríguez, die regelmäßig daran teilnimmt. Sie hat Tage damit verbracht, Bürokrat*innen zuzuhören, die darüber diskutierten, ob Sargassum als Ressource oder als Abfall definiert werden soll – davon hängt ab, wer für die Entsorgung zuständig ist und nach welchen Regeln diese zu erfolgen hat.

Flotter als die Behörden ist die Zivilgesellschaft.

Rodríguez hat zum Beispiel die Inhaltsstoffe der Algen untersucht: „Sargassum hat antibakterielle, blutdrucksenkende, entzündungshemmende und krebshemmende Eigenschaften“, sagt sie. Das wiederum rief Unternehmen auf den Plan, die hoffen, aus der Plage einen grünen Geschäftszweig zu machen. 

Viele Ideen wurden geboren: Es gibt in Mexiko inzwischen eine Sparte Maschinenhersteller, die auf Reinigungsgeräte für Braunalgen spezialisiert ist. Es gibt Algenstaubsauger, Unterwasser-Barrieren und schwimmende Transportbänder. Architekt*innen stellen Sargassum-Ziegel für nachhaltige Bauten her, Start-ups experimentieren mit Biogas, Düngemitteln oder Produkten für die Kosmetik- und die Verpackungsindustrie.

Vom fossilen Flüssiggas zum Algen-Biogas

Einer der mexikanischen Sargassum-Pioniere ist Miguel Aké. Der 73-Jährige ist Elektroingenieur aus Zentralmexiko, wo sein Unternehmen Nopalimex Biogasanlagen baut, die auf Nopal-Kakteen (auch bekannt als Feigenkakteen) und Resten aus der Avocado-Produktion basieren. Im Jahr 2019 sammelte er 45 Tonnen Sargassum und brachte die Algen zu seiner Anlage im Bundesstaat Michoacán, um Tests durchzuführen. 

Nachdem die Algen per Hochdruck gründlich von Salz, Sand, Mikroplastik und Schwermetallen wie Blei, Quecksilber oder Arsen gereinigt wurden, ließ er sie vergären. Heraus kam ein Biogas, mit einem Methangehalt von 58 bis 64 Prozent. „Nopal ist mit 64 bis 72 Prozent etwas besser“, sagt er. „Aber das Sargassum-Biogas ist ausreichend, um es in den Warmwasserboilern der Hotels zu nutzen.“ Derzeit wird dort fossiles Flüssiggas eingesetzt. 

Weil die Gaspreise gestiegen sind, haben Hoteliers daran Interesse. Aké hat mit seinen Geschäftspartner*innen bereits Land in der Nähe der Städte Cancún und Tulum erworben, um zwei Anlagen im Wert von jeweils rund 60 Millionen Pesos (3,2 Millionen Euro) zu bauen. Er hofft, dieses Jahr mit dem Bau beginnen zu können. 

Da der Rohstoff kostenlos ist, werden die Produktionskosten für einen Liter Sargassum-Biogas etwa zwei Pesos (zehn Eurocent) betragen, rechnet er vor, während ein Liter Flüssiggas 13 Pesos (70 Cent) kostet. Die mögliche Gewinnmarge ist lukrativ – aber nur, wenn die Stadtverwaltung die benötigten 300 Tonnen Sargassum pro Tag kostenlos an die Biogasanlage liefert. Doch das ist fraglich. 

Rohstoff oder Sondermüll?

Der Staat ist nicht gewillt, die gesamte finanzielle Last der Algenreinigung mit Steuergeldern zu schultern, um private Gewinne zu ermöglichen. Diese Erfahrung hat zumindest Hector Romero von der Firma Dianco gemacht. Er hat vor einem Jahr in der Nähe von Puerto Morelos eine Anlage errichtet, in der er Biodünger auf der Basis von Sargassum herstellt. 600 Tonnen täglich kann er verarbeiten – aber der Rohstoff kommt nicht bis zu ihm. „Die Gemeinden von Tulum und Playa del Carmen finden es zu teuer, den Diesel für den Transport zu unserer Anlage zu bezahlen“, sagt er. „Wir haben vorgeschlagen, die Kosten zu teilen, aber sie haben nicht zugestimmt.“ 

Romero glaubt, dass er den Behörden einen Gefallen tut, da das Sargassum sonst auf spezielle Deponien mit Geomembranen gebracht werden muss, um eine Verseuchung des Grundwassers zu vermeiden. Eine solche wäre fatal: Die Süßwasserversorgung der gesamten Halbinsel Yucatán hängt von einem Netz unterirdischer Wasserhöhlen und Flüsse ab, den Cenoten.

Doch Sondermülldeponien sind teuer. Private Mülldeponien nehmen Sargassum in der Regel nicht an – was die Behörden dazu veranlasst, die Algen irgendwo abzuladen, im Dschungel oder sogar an den Rändern weniger befahrener Straßen im Inneren der Halbinsel. Die Biologin Rodríguez ist besorgt über die Gefahren für das Ökosystem und die Gesundheit, die von dieser Art der wilden Entsorgung ausgehen. „Seit acht Jahren debattieren wir, und wir haben immer noch keine einzige genehmigte Deponie“, kritisiert sie.

Ein bürokratischer Genehmigungs-Alptraum

Neben den Kosten behindern bürokratische Hürden die Entsorgung. Die Hotels und Algen-Unternehmen würden Sargassum lieber direkt im Meer abfischen. Dort ist es für Tourist*innen nicht sichtbar, und die Alge wäre nicht mit Sand verschmutzt. Es gibt auch darauf spezialisierte Unternehmen, die mit Barrieren, Kähnen, Staubsaugern und Transportbändern arbeiten. 

Aber Algensammeln im Meer ist ein bürokratischer Genehmigungs-Alptraum: Die Marine ist offiziell Ansprechpartnerin für das Sargassum im Meer. In 50 Metern Entfernung vom Strand ist eine Behörde namens Zofemat zuständig, und am Strand ist das Hotel oder die Gemeinde verantwortlich. „Das befeuert die Korruption“, klagt Romero. Er hat sich deshalb entschlossen, aufs Sammeln zu verzichten und Sargassum von allen anzunehmen, die es zu seiner Fabrik bringen. 

„Wir wollen zum Beispiel dem Hotel, das uns sein Sargassum überlassen hat, Produkte aus veganem Leder wie Serviettenhalter liefern.“ Felix Navarrete, Unternehmer

Felix Navarrete, Präsident der Grupo Ensol, hat eine andere Strategie gewählt. Ensol ist Teil einer internationalen Risikokapitalgruppe namens Carbonwave. Sie hat vier Millionen Euro in einen Geschäftsplan für integrales Management investiert, bei dem Sargassum sowohl an Land als auch auf See gesammelt und mit Lastwagen zu ihrer Fabrik gebracht wird.

Ensol hat aus Braunalgen eine Biochemikalie für die Landwirtschaft entwickelt, dank der Pflanzen besser mit Hitzestress oder Wasserüberschuss umgehen können. Außerdem stellt die Firma einen Emulgator für die Kosmetikindustrie her und hat einen Prototyp für veganes Leder entwickelt. 

Diese Produkte sollen laut Navarrete Teil einer Kreislaufwirtschaft werden. „Wir wollen zum Beispiel dem Hotel, das uns sein Sargassum überlassen hat, Produkte aus veganem Leder wie Serviettenhalter liefern“, sagt er. Damit möchte Ensol Caribe dann auf den internationalen Finanzmärkten grüne Investitionen und Emissionsgutschriften einwerben. 

Der Staat reagiert langsam

Während die Unternehmen auf glühenden Kohlen sitzen, lässt sich der Staat Zeit. Mexikos Umweltministerium plant, bis Ende 2024 einen Entwurf für ein Sargassum-Gesetz fertigzustellen. Doch ob das klappt, ist fraglich – 2024 ist Wahljahr.

Die Geschäftsleute sind auch verärgert über die Bundeskommission für den Schutz vor gesundheitlichen Risiken (Cofepris). Die muss jedem Produkt bescheinigen, dass es kein Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier darstellt. Sonst darf es nicht auf den Markt. Bis heute hat noch keiner der drei Unternehmer Aké, Romero und Navarrete ein solches Siegel.

Die Biologin Rodríguez versteht den Frust der Unternehmer, aber auch den Staat. „Wir brauchen einfach noch viel mehr Forschung, um die Auswirkungen und die Gefahren der Verarbeitung und Lagerung von Sargassum vollständig zu verstehen“, sagt sie.

Der Beitrag erschien in einer englischen Fassung zuerst auf dem Portal Mongabay und im deutschsprachigen Raum auf dem Journalismus-Portal RiffReporter.

     

Autor*in: Sandra Weiss

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