Der wahre Wert unbezahlter Arbeit
In diesem Gebäude - der ehemaligen Wirtschaftsuniversität in Wien-Spittelau – lernte unsere Autorin vor fast zwanzig Jahren nur wenig über unbezahlte Arbeit. Aber auch heute spielt das Thema im Lehrplan keine große Rolle. Bild: Jeff Mangione / KURIER / picturedesk.com
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Jolanda Allram
Reporterin

Der wahre Wert unbezahlter Arbeit

Keine Wirtschaft ohne Fürsorge: Ohne unbezahlte Arbeit würde unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Doch in der abgespeckten Realität volkswirtschaftlicher Modelle existiert sie nicht. Warum das ein Problem ist. 

Wie können die Bedürfnisse aller Personen in einem Haushalt befriedigt werden? Schon Aristoteles hat sich darüber Gedanken gemacht. Das Wort Ökonomie stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „die Lehre vom Haushalt“. Im antiken Griechenland ging es darum, so mit knappen Ressourcen umzugehen, dass alle Bewohner*innen des Oikos – der Hausgemeinschaft – gut versorgt sind.

Side Note: Wenn wir über Aristoteles sprechen, soll nicht unerwähnt bleiben, dass er mit seiner Annahme, Frauen wären Männern naturgemäß unterlegen, maßgeblich an dem Ausschluss von Frauen aus der Öffentlichkeit beteiligt war. Deswegen reicht hier diese kurze Referenz zu dem griechischen Philosophen, reisen wir wieder 2.400 Jahre in die Zukunft. Was ist aus dem Grundgedanken der Ökonomie geworden?

Die Menschheit setzt sich immer noch damit auseinander, wie wir unsere Ressourcen am besten einsetzen. Aktuell tun das zum Beispiel mehr als 21.000 Studierende an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien). Etwas hat sich aber grundlegend verändert. Ging es im altgriechischen Oikos darum, Menschen gut zu versorgen, so lernen Studierende heute vorwiegend das, was die Wirtschaft an sich braucht: Gewinnmaximierung der Unternehmen und Wachstum. Geld ist zur Messgröße für Produktivität geworden. Woher ich das weiß? Ich war eine dieser WU-Studierenden.

Der Zauber der Wirtschaftswissenschaften

Vor etwa 20 Jahren saß ich als junge Frau im Hörsaal in Wien-Spittelau und hörte, dass volkswirtschaftliche Modelle vereinfachte Abbildungen der Wirklichkeit sind. ___STEADY_PAYWALL___ Unbezahlte Arbeit existiert in dieser abgespeckten Realität nicht. Arbeitskräfte stehen außerdem unbegrenzt zur Verfügung und reproduzieren sich immer wieder von selbst, ganz ohne Ressourceneinsatz. Magie? Schwangere und Eltern können an dieser Stelle nur müde lachen. Schon damals erschien mir etwas daran grundlegend falsch, ich konnte nur nicht benennen, was. Ich blickte in die Gesichter meiner Mitstudierenden, die genauso gelangweilt wirkten wie immer. Den Mut, kritisch nachzufragen hatte ich damals, in einem vollen Hörsaal einer renommierten Universität, nicht.

Cooking, Cleaning, Caring, also das, was wir heute Care-Arbeit nennen, wurde und wird in private Haushalte zum Nulltarif abgeladen, systematisch abgewertet und unsichtbar gemacht.

Meinem 20-jährigen Ich kann ich heute sagen: Dein Gefühl hat dich nicht getäuscht. Alle Tätigkeiten, die keine monetären Einnahmen einbringen, werden nicht als Bestandteil der Wirtschaft gesehen. Cooking, Cleaning, Caring, also das, was wir heute Care-Arbeit nennen, wurde und wird in private Haushalte zum Nulltarif abgeladen, systematisch abgewertet und unsichtbar gemacht. Obwohl es all diese Tätigkeiten braucht, um Menschen großzuziehen und später ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Obwohl wirtschaftlich tätig werden erst dann möglich ist, wenn gut für uns gesorgt wird: Care-Arbeit erhielt das Etikett „unproduktiv“.

Unbezahlte Arbeit bleibt unsichtbar

Das ist keine Kleinigkeit, denn volkswirtschaftliche Modelle und Kennzahlen werden auch für politische Entscheidungen herangezogen. „Es gibt keine ökonomische Größe, die so einen Einfluss auf politische Entscheidungen hat, wie das BIP“, sagt Christine Rudolf, politische Ökonomin mit Schwerpunkt Geldtheorie, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und Care-Ökonomie. Sie lehrte u.a. an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und ist Co-Projektleiterin der Plattform Economiefeministe. Das BIP oder Bruttoinlandsprodukt misst den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land erwirtschaftet werden.

Die Ökonomin Christine Rudolf sagt: „Wir Frauen tragen die Verantwortung für diese Gesellschaft überwiegend, sitzen aber nicht in den Entscheidungsgremien.“ Bild: privat

Mit Wert ist ausschließlich eine monetäre Leistung gemeint. In dieser Realität ist nur Leistung, die bezahlt wird, von Wert. Unbezahlte Arbeit bleibt irrelevant und unsichtbar. Dennoch wird die Veränderung des BIP auch häufig herangezogen, um den Wohlstand einer Nation zu beurteilen. In der Mainstream-Ökonomie gilt die Gleichung: BIP-Wachstum = Wohlstand. Wohlstand als ein Produkt reinen wirtschaftlichen Handelns? Wenn Fürsorge dieses erst möglich macht, geht die Rechnung nicht auf.

44 Prozent des österreichischen BIP

Wie gut bilden also solche Modelle und Kennzahlen die Wirklichkeit ab? Ist die unbezahlte Arbeit vernachlässigbar, wie man bisher angenommen hat? Rudolf hat für die Initiative CloseEconDataGap die Summe an geleisteter unbezahlter Arbeit in einem Jahr mit dem österreichischen Medianeinkommen (jener Wert, bei dem 50 Prozent der Personen mehr, die anderen 50 Prozent weniger verdienen) bewertet und so ihren monetären Wert errechnet: Im Jahr 2022 haben wir unbezahlte Arbeit im Wert von 195 Milliarden Euro geleistet. Das waren 44 Prozent des österreichischen BIP. Tatsächlich: keine Kleinigkeit. 

„Pay-Gap, Care-Gap, Time-Gap, Pension-Gap, das alles zusammensummiert, ergibt einen ganz großen materiellen Nachteil für Frauen.“ Christine Rudolf, politische Ökonomin

Eine solche Gegenüberstellung von bezahlter und unbezahlter Wertschöpfung sei wichtig, um Größenordnung zu verdeutlichen, sagt Rudolf. So könne auch die Leistung politisch berücksichtigt werden. Politische Entscheidungen, die auf Daten der bezahlten Arbeit beruhen, würden ebenso auf den Sektor der unbezahlten Arbeit wirken. „Wenn ich bezahlte und unbezahlte Arbeit nicht zusammen betrachte, dann fälle ich politische Entscheidungen, deren Auswirkungen ich nicht wissen kann“, so Rudolf.

Für die Berechnungen hat Rudolf die Zeitverwendungserhebung der Statistik Austria herangezogen. Sie gibt unter anderem Aufschluss über die geleistete Arbeit, bezahlt wie unbezahlt. Solche Erhebungen würden aber viel zu selten durchgeführt, sagt Rudolf. 13 Jahre liegen zwischen der aktuellen Erhebung und der davor. Was sich in dieser Zeit kaum verändert hat: Frauen leisten den überwiegenden Teil der unbezahlten Arbeit. „Wir Frauen tragen die Verantwortung für diese Gesellschaft überwiegend, sitzen aber nicht in den Entscheidungsgremien und es wird nicht anerkannt, was wir tun.“ Die Auswirkungen dessen werden mit gleich mehreren Lücken sichtbar: „Pay-Gap, Care-Gap, Time-Gap, Pension-Gap, das alles zusammensummiert, ergibt einen ganz großen materiellen Nachteil für Frauen“, sagt Rudolf. Mehr Transparenz könne eine Diskussion über eine bessere Verteilung der Belastung von Care-Arbeitenden anstoßen.

Wirtschaftswissen hinterfragen

„In der Mainstream-Ökonomie und dem, was unterrichtet wird an deutschsprachigen Hochschulen, findet dieser Diskurs nicht statt“, sagt Rudolf. Die vereinfachten Modelle und Kennzahlen hätten mit der ökonomischen Wirklichkeit, auch fernab der unbezahlten Arbeit, nichts zu tun. So werden auch Umweltprobleme ausgeklammert. Die Ökonomin sagt: „Es gibt eine breite Bewegung aus der Studierendenschaft, die sagt, dass an den Hochschulen gar nicht mehr das unterrichtet wird, was notwendig ist, um die Wirtschaft tatsächlich zu verstehen.“

Progressive Ansätze, die sich kritisch mit Mainstream-Ökonomie auseinandersetzen, gibt es. Sie werden unter dem Begriff Heterodoxe Ökonomie zusammengefasst. Auch an meiner Alma Mater, der WU Wien, werden sie in bestimmten Studienrichtungen unterrichtet. Unter Studierenden und Lehrenden gibt es allerdings Stimmen, die sagen, dass kritische Ansätze zunehmend aus der Forschung und Lehre verdrängt werden, wie eine Reportage des Standard zeigt.  Ein Blick auf den aktuellen Studienplan meiner Studienrichtung Betriebswirtschaft zeigt: er unterscheidet sich heute kaum von dem vor 20 Jahren. 

Autor*in: Jolanda Allram

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