Wie Schwarz-Blau eine ganze Generation politisierte
Hunderte Demonstrant*innen besetzten im Jahr 2000 im Rahmen der Demonstration gegen die Angelobung der Regierung Schüssel I kurzfristig das Sozialministerium. Für die neue FP-Sozialministerin hinterließen sie im Inneren des Ministeriums eine Botschaft. Bild: APA/Roland Schlager
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Dominik Ritter-Wurnig
Gründer

Wie Schwarz-Blau eine ganze Generation politisierte

Down the Memory Lane: Vor 25 Jahren habe ich die Schule geschwänzt, um gegen Schwarz-Blau zu demonstrieren. Die Hoffnungen damals waren die gleichen wie heute.

Über den Lehrereingang schlichen meine Schulkolleg*innen und ich uns nach der zweiten Schulstunde raus. Trotz „schriftlicher Entschuldigung“ hatte man uns verboten, die Schule zu verlassen. Wir schreiben den 4. Februar 2000, es war ein sonniger Freitag. Ich war damals Sechstklässler in einem Floridsdorfer Gymnasium. Schon die Tage davor war ich bei Demonstrationen vor der ÖVP-Zentrale in der Lichtenfelsgasse.

Relativ kurzfristig war bekannt geworden, dass an diesem Freitag um 12 Uhr Bundespräsident Thomas Klestil die erste schwarz-blaue Regierung angeloben würde. Die Demonstration brauchte keine Ankündigung, keine Organisation, keinen Aufruf. Als ich gegen 11 Uhr auf den Ballhausplatz kam, war dieser schon dicht gefüllt mit Demonstrierenden, Polizist*innen und Journalist*innen. Es flogen Eier, Obst und Farbbeutel. Menschen kletterten auf Bäume, Laternenmasten und den Zaun zum Volksgarten, um Wolfgang Schüssels Regierung zu sehen. 

Bekanntlich bekam man die Ministerriege nie zu Gesicht. Vor Ort verlief die Demonstration sehr antiklimaktisch: Es passierte nichts, es gab keine Reden. Dass währenddessen die Angelobung in der Präsidentschaftskanzlei stattfand, bekam man in der Masse nicht mit. Zur Erinnerung: Es gab noch keine Smartphones, kommuniziert wurde maximal per SMS. Im Laufe des Tages formierte sich ein Demonstrationszug, kurzzeitig wurde das Sozialministerium besetzt. Spätabends kam es zu Ausschreitungen in der Nähe der damaligen FPÖ-Zentrale in der Kärntner Straße.

Angelobung der Schwarz-blauen Regierung [Ausschnitt] | Mediathek

Der unterirdische Gang als Symbol

Ohne es beim Schule stangeln zu wissen, sollte diese Kundgebung an diesem Ort zu diesem Zeitpunkt Symbolcharakter entfalten. An einem Werktag vormittags (!) im Februar versammelten sich spontan mehrere tausend Menschen. Es war die letzte Chance, seinen Unmut auszudrücken, bevor man sich der Realität beugen musste. Es war die letzte Chance, auf ein Einlenken in der ÖVP zu hoffen. Es war die letzte Chance, Widerstand – so nannte man es damals – vor dem Antritt der Regierung zu leisten. 

Dass die Regierung wegen der Proteste unterirdisch zur Angelobung ging, wird noch in keiner Nacherzählung über Schwarz-Blau I ausgelassen. Der ÖVP-Finanzstaatssekretär Alfred Finz beklagte noch acht Jahre später im Standard die Demonstration als „undemokratischen Akt, der eine Regierung unter die Erde zwingt“. Auch in der Protestbewegung selbst ist der 4. Februar 2000 ein Vierteljahrhundert später ein Referenzpunkt. Dieser Freitag ging als Geburtsstunde der sogenannten Donnerstagsdemos in die Geschichte ein. 

Protestbewegung ohne Organisation

Demonstriert wurde aber nicht nur donnerstags, immer samstags war am Heldenplatz Volkstanz angesagt; dabei wurde in erster Linie zu Techno getanzt und Dosenbier getrunken. So war der Zeitgeist. Bei der sogenannten Botschaft der besorgten Bürger*innen – einem Container am Ballhausplatz – gab es Flyer, Pickerl und immer jemanden zum Diskutieren.

Das durchgestrichene schwarz-blaue Mascherl auf dem Pickerl wurde zum Symbol der Protestbewegung. Vermutlich ärgerte das Mascherl-Träger Wolfgang Schüssel so sehr, dass er im März 2000 seinen Dresscode änderte und fortan Krawatte trug. Bild: Dominik Ritter-Wurnig

Jeden Donnerstagabend traf man sich am Ballhausplatz und zog von dort durch die Stadt. Waren anfangs noch mehrere Tausend Menschen dabei, sanken die Teilnehmerzahlen Woche für Woche und pendelten sich im Herbst 2000 bei rund Tausend Menschen ein. Angemeldet waren die Demos nie, eine Route war nicht festgelegt. „In den ersten Tagen der Widerstandswelle wurde an jeder Straßenkreuzung spontan entschieden, wo weitergegangen werden sollte – am besten dort, wo die Polizei noch nichts abgeriegelt hatte. Der Verkehr brach stadtteilweise zusammen“, schrieb das anarchistische Tatblatt am 10. Februar 2000. Die Demonstrationen wurden auch als Stadtspaziergänge bezeichnet, auf denen etwa bis zum ORF-Zentrum in den 13. Bezirk gewandert wurde.

Es war eine soziale Bewegung ohne Organisation, ohne Anführer*innen, ohne Ziel – vereint waren die unterschiedlichen Menschen und Gruppen nur durch einen Gegner, Schwarz-Blau. ___STEADY_PAYWALL___ Anders als bei Uni brennt 2009/2010 (Sigrid Maurer) oder den Protesten gegen Studiengebühren im Jahr 2007 (Barbara Blaha) gibt es keine Person, die man heute mit dem damaligen Widerstand identifiziert. 

Im Bild: http://o5.or.at vom 18.10.2000
So sahen damals Webseiten aus. Im Bild: http://o5.or.at vom 18.10.2000

„Internetgeneration” politisiert sich

Die Proteste ebbten nach der Angelobung jedoch nicht ab, von Anfang Februar bis Ende Juni zählte die Wiener Polizei laut einer Aussendung insgesamt 135 Demos an 140 Tagen. Die soziale Bewegung war motiviert, jung und vor allem digitalaffin. Das Internet war damals erst ein zartes Pflänzchen. Die Wikipedia wurde erst 2001 gegründet, Facebook startete 2004, das iPhone kam 2007 auf die Welt.

Trotzdem informierte man sich damals schon digital – über schnell entstandene, schlecht designte Webseiten wie 05.or.at, no-racism.net oder ceiberweiber.com. Wann und wo die nächsten Demonstrationen anstanden, entnahm man am besten dem MUND (Medienunabhängiger Nachrichtendienst), der werktags als Email-Newsletter verschickt wurde. Heute kann man sich über die Wayback-Machine auf die Suche nach Spuren der damaligen digitalen Protestkultur begeben.

Screenshot aus dem Newsletter MUND vom 4.2.2000, aufgerufen am 3.2.2025 über https://web.archive.org/
So ging Social Media im Jahr 2000: der MUND.

Versucht verächtlich bezeichnete der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel die Protestierenden im Vorfeld einer Demo mit über 200.000 Teilnehmer*innen als „Internet-Generation”, für diese eine Steilvorlage. 

Tshirt mit dem Slogan "Ich bin die Internetgeneration"
Wolfgang Schüssel hatte vor allem verachtende Worte für die Internetgeneration. Diese druckte wiederum T-Shirts mit Schüssels Aussage. Bild: Anna Mayrhauser

Die politische Stimmung war damals extrem angespannt. Der damalige FPÖ-Generalsekretär und heutige ORF-Stiftungsrat Peter Westenthaler verbreitete regelmäßig Fake-News (damals nannte man das noch nicht so), etwa über „bezahlte linksextremistische Berufsdemonstranten aus Deutschland“. Das veranlasste den damaligen SJ-Bundessekretär und heutigen SPÖ-Chef, Andreas Babler, genau als solcher verkleidet an einer Demonstration teilzunehmen.

Andreas Babler protestiert als „Bezahlter bayerischer Berufsdemonstrant“ kostümiert im Jahr 2000 gegen Schwarz-Blau. Bild: Hans Klaus Techt / APA / picturedesk.com

Die „Wenderegierung“ im Jahr 2000 wurde zu einem Moment der Politisierung für eine ganze Generation: Viele, die später das linke Spektrum prägten, waren damals erstmals auf Demonstrationen und empörten sich darüber, dass die ÖVP die FPÖ in die Regierung holte, um als Dritter das Kanzleramt zu bekommen. Auf der anderen Seite ärgerten sich viele aus dem rechten Spektrum über die Proteste und die sogenannten „Sanktionen“ der anderen EU-Länder. Noch heute spürt man in Gesprächen mit SPÖ-Vertreter*innen, dass das Vertrauen zur ÖVP damals nachhaltig zerstört wurde, weil Wolfgang Schüssel Anfang 2000 parallel zur SPÖ im Geheimen schon mit der FPÖ verhandelte.

Zurück in die Gegenwart

Anlässlich des 25-Jahr-Jubiliäums der Angelobung von Schwarz-Blau I und um gegen eine mögliche bevorstehende FPÖ-Kanzlerschaft zu protestieren, versammeln sich am Dienstag rund 30.000 Menschen vor dem Bundeskanzleramt. Als der Demozug vor der ÖVP-Parteizentrale in der Lichtenfelsgasse ankommt, liegt Spannung in der Luft. Boulevardmedien berichten von stockenden Koalitionsverhandlungen und einer ÖVP-Krisensitzung ebendort. Genau wie vor 25 Jahren hoffen die Menschen heute auf der Straße, dass die Volkspartei im Gebäudeinneren im letzten Moment die Koalition abbläst. 

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